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Wo alles anfing. Auf dem Dach des Hauses in der Rykestraße in Prenzlauer Berg

© Marie Mentel

Eine außergewöhnliche Flucht aus der DDR: Der lange Weg aus Ost-Berlin nach Peking

Zwei Ost-Berliner reisten 1987 bis nach China. Die Geschichte ihrer abenteuerlichen Flucht wird jetzt in einem Buch erzählt und in einer Wanderausstellung präsentiert.

Von Matthias Meisner

Sie lebten noch in Ost-Berlin. Aber in Gedanken waren sie schon ganz weit weg von ihrem Heimatland, das ihnen gerade erst sehr deutlich die Grenzen aufgezeigt hatte. Eben hatten der damals 23-jährige Jens und seine Freundin Marie, 24, die Reisepässe bekommen für das größte Abenteuer ihres Lebens. Zielland: Mongolei, Transit durch Polen und die Sowjetunion. Aber Jens träumt bereits weiter: „Was steht in deinem alten Buch über die Mongolei? Unsere Beharrlichkeit, auch die des Wünschens hat magische Kräfte.“ Vielleicht, so meint er, „schaffen wir es doch noch bis zur Chinesischen Mauer?“ Marie nickte.

Es gibt viele Fluchtgeschichten. Gerade jetzt werden sie wieder erzählt, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer. Jens und Marie aber haben die mutmaßlich ungewöhnlichste von allen erlebt. Der Journalist Peter Wensierski hat sie jetzt in Buchform gebracht („Die verbotene Reise“, 256 Seiten, Spiegel-Buch, DVA-Verlag, 19,99 Euro). Und vom 10. April an geht von den 5000 Bildern, die auf der Reise entstanden sind, eine kleine Auswahl als Wanderausstellung durch die Republik: Berlin, München, Leipzig, Dresden und – rund um den Jahrestag des Mauerfalls – Potsdam. Es ist kein Zufall, dass deren erste Station Honeckers alte Lieblingsherberge ist, das ehemalige DDR-Interhotel Grand Hotel Berlin, das heute zur US-Kette Westin gehört. Das passt deshalb so gut, weil die Geschichte von Jens und Marie eine mit vielen Brüchen ist.

Von der Uni geflogen, von der Stasi bespitzelt

Die beiden lebten in Prenzlauer Berg, in der Rykestraße. Das Dach des Gründerzeithauses wählten sie zu ihrer kleinen Freiheit, und hier entstand auch der Plan für die Mongoleireise, die den beiden wegen der weiten Natur und des ursprünglichen Lebens der Nomaden so verlockend erschien. Jens studierte Biologie, er hatte es auf halb legalem Weg mit UdSSR-Transitvisum schon bis ins georgische Swanetien geschafft, hielt Vorträge über seine Erkundungen an der Urania. Doch wegen seines Engagements für den Naturschutz und in der evangelischen Studentengemeinde geriet er bald mit der Staatsmacht in Konflikt. Er wurde von der Humboldt-Universität exmatrikuliert, als offizieller Grund herhalten musste sein angeblich mangelndes Engagement in der FDJ. Bald darauf wurden Jens auch seine Lichtbildervorträge an der Urania untersagt, die bis dahin seine Einkommensquelle waren.

Marie in Peking. Wohin jetzt?
Marie in Peking. Wohin jetzt?

© Jens Kießling

Und trotzdem sollte er es mit seiner Freundin, die an der Kunsthochschule Weißensee studierte, bald darauf tatsächlich schaffen, nicht nur durch die Sowjetunion und in die mit ihr verbündete Mongolei zu kommen. Nicht nur durch die Wüste Gobi kreuz und quer zu trampen. Sondern dann tatsächlich in Ulan Bator Visa für China zu erhalten. Mit dem Zug zuerst in Hohhot anzukommen, später mit Schiffen den Jangtsekiang herunterzufahren, durch chinesische Dörfer und Städte und schließlich bis nach Peking.

Erfinderisch geben die "Erlaubnisbürokratie"

Jens und Marie haben Unglaubliches erlebt und geleistet. Sie waren erfinderisch gegen das, was Wensierski in seinem Buch „Erlaubnisbürokratie“ nennt. Ihre Einladung in die Mongolei hatten sie gefälscht. Jens war von Stasioffizieren verhört worden. Und dennoch bekamen sie Reisepässe? Weil der Überwachungsstaat DDR den selbst gesetzten Anspruch eben nicht perfekt erfüllte: Der Bergwanderer Jens war als internationaler Sportler kategorisiert worden, und die zuständige Passstelle sah keine Probleme. Wensierski, der für sein Buch die Stasiakten der beiden gelesen hat, weiß, wie sehr sich der Geheimdienst, als die beiden längst in China waren, „vor Wut in den Bauch gebissen hat“.

Für Roland Jahn ist es ein "Lehrstück aus den Stasiakten"

Auch der Stasiunterlagenbeauftragte Roland Jahn hebt Grenzüberschreitungen dieser Art hervor, neben dem Umstand, dass sich mithilfe der Akten auch in diesem Fall detailgetreu aufklären lasse, „wie der Staat DDR Menschen wie Jens zu Feinden machte“. Der Fall ist für ihn ein „Lehrstück aus den Stasiakten“. Es zeige einerseits, wie der Alltag der Diktatur funktionierte. Aber eben auch, „wie Menschen um Freiheit und Selbstbestimmung rangen“, immer wieder Wege fanden, sich der „verlangten Anpassung zu entziehen“. Das Buch „Die verbotene Reise“ löse sich, lobt er, aus den Schwarz- Weiß-Betrachtungen zur DDR-Diktatur. Diese Pointe ist auch Wensierski wichtig. Für ihn ist das „einmalige, große Abenteuer“ seiner beiden Protagonisten auch ein Beleg dafür, dass längst nicht alle Klischees über die DDR stimmen. Dass das Leben dort „ein bisschen anders“ war. Mindestens: anders sein konnte.

Nur Zwischenstation. Jens in der Mongolei
Nur Zwischenstation. Jens in der Mongolei

© Marie Mentel

Gehen oder bleiben? Diese Frage trieb damals viele Ostdeutsche um. Auch Jens und Marie diskutierten immer wieder. Manche Begegnung brachte neuen Stoff dafür. Etwa die mit dem mongolischen Schriftsteller Galsan Tschinag, der in Leipzig studiert hat und ihnen berichtete, wie er mit 18 am Ost-Berliner Hauptbahnhof ankam: „Alles war genormt und geregelt.“ So empfand Galsan das ganze Leben in der DDR: „vorgeformt, ausgeschildert und gestempelt“. Seine beiden Besucher dürften dem nicht widersprochen haben.

Als beide nach der Reise von 10 806 Kilometern vor der westdeutschen Botschaft in Peking standen, haben sie nicht die gleiche Entscheidung getroffen. Sie sind auch kein Paar mehr. Er lebt mit Familie im Spreewald, sie im Fläming. In ihren Sehnsüchten sind sich die beiden bis heute sehr ähnlich.

Die Fotoausstellung mit 22 Motiven ist vom 10. April bis 27. Mai in der Lobby des The Westin Grand Hotel Berlin, Friedrichstraße 158 bis 164, zu sehen. Anschließend werden die Bilder gezeigt vom 3. Juni bis 2. Juli in München, vom 13. August bis 10. September in Leipzig, vom 16. September bis 16. Oktober in Dresden und vom 18. Oktober bis 19. November in Potsdam. Der Eintritt bei allen Ausstellungen ist frei.

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