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Gesellschaft: Stadtliche Ernte

Wilde Kräuter und Beeren sind die Stars in den besten Restaurants. Dabei wachsen Bärlauch, Holunder, Brunnenkresse oder Brombeeren mitten in Berliner Parks oder an Gleisanlagen. Man muss sie nur sehen

Am sichersten bewegen sich diejenigen, die schon als Kinder mit der kleinen krummen Oma und dem kleinen krummen Messer in die Pilze gingen, in deren Kellern Rumtöpfe standen und Marmeladen. Die eine ganze Ernte in Gläser gezwängt und mit Gummis abgedichtet haben. Die im Herbst mit den Eckzähnen Bucheckern aufgebissen haben, im Sommer aus Klee die Süße gesaugt, auf Gräsern gepfiffen und Blaubeeren gesucht.

Und was machen sie heute? Sie säen nicht, sie ernten nur, und die Stadt Berlin ernährt sie gut. Denn Berlin ist eine essbare Stadt. Noch bevor der Mensch zum Zuge kommt, haben 3000 Berliner Bienenvölker ihr Pollenmaterial für tausende Kilo innerstädtischen Honig gesaugt. Der Honig gilt als besonders gut, denn im Gegensatz zu den Monokulturen auf dem Land blüht es in Berlin viel artenreicher. Und hätte der Städter Augen für das, was da wild wächst, er bräuchte nur zu pflücken.

Regelmäßig wird zwar lautstark ein einzelnes Kraut wiederentdeckt, das wie Rucola oder Bärlauch dann auf allen Tellern, Speisekarten und Marktständen landet, aber erst dort erkennen die meisten, was es ist, sagt Wolfgang Greyer, 41, Österreicher, an der Hand der Oma in den Wald gezogen, seit 20 Jahren in Berlin. Zuletzt hat er hier in seiner Freizeit Lindenblüten gesammelt, früher im Jahr Löwenzahn, Bärlauch, wilden Knoblauch, wildes Basilikum, Kirschen, bald Brunnenkresse, Holunder und natürlich Pilze im Herbst. Auf Fahrradtouren entdeckt er wilde Himbeeren, und Walnüssen zieht er im Juli, noch bevor sie gereift sind, die dünnen Häute ab und legt sie ein. Die Schalen haben derart viele Gerbstoffe, dass er sie erst zehn Tage wässern und dabei Handschuhe benutzen muss. Dann aber kann er sie in Essig, Öl und Gewürze einlegen nach Rezepten, die er aus Österreich kennt und die die wenigsten je probiert haben.

Weil sie eben nichts wissen. Weil die Kenntnis wilder Pflanzen ausstirbt, und die Alten tragen sie mit sich herum, ohne zu ahnen, dass sie noch jemandem nutzt. Dann stirbt sie mit ihnen. Es ist ein Erfahrungswissen, das man immer noch besser bei echten Menschen findet als im Internet. Und es ist so wertvoll, dass Wolfgang Greyer seine ertragreichsten Stellen nicht verraten kann. Er hat über Jahre seinen Blick perfektioniert, mitten in Berlin. Er ist zu jemandem geworden, der als Werkzeug immer einen „Leatherman“ dabei hat – damit kann man bei Bedarf schneiden, graben und hacken.

Seine Freunde, von denen er viele angesteckt hat mit der Begeisterung für wilde Kräuter und Früchte, fragen ihn zu allem um Rat und nennen ihn den „Food-Coach“. Er weiß, ob man von einer Pflanze die Knospen, die Blüten, die Blätter, die Wurzeln, die Schalen oder nur das Fruchtfleisch essen kann. Er hat eine Joggingstrecke, auf der er im Frühjahr tagtäglich den Fortschritt des Bärlauchs beobachtet. Erst wenn der optimale Grad erreicht ist, macht er Pesto daraus oder friert einige Bündel ein.

Die Menschen in den steinernen Städten, die den Sommer erst lieben, wenn der aufgeheizte Asphalt in der Nacht noch Wärme abgibt, interessieren sich allerdings immer dringender für die Natur. Wolfgang Greyer hat auch in seinem Freundeskreis bemerkt, wie die Leute zunehmend gelangweilt waren von den immer neuen Möglichkeiten des städtischen Amüsierbetriebs. Was kannst du mir noch zeigen?, fragen sie. Etwa noch eine Veranstaltung? Angeödet vom kurzfristigen Zeitvertreib, der ihnen irgendwann wie eine Verschwendung vorkam, schienen die Pflanzen so etwas wie Sinn zu geben. Etwas, das wächst, in jeder Hinsicht. Ein Wissen, das unendlich erweiterbar ist, ein Produkt, dessen Herstellung man verfeinern könnte. Die Unwägbarkeiten betreffen die Ernte, die Witterung, die Pflanzen, ja sogar die Verarbeitung in Gelees, die nicht verdicken. Das stachelt den Willen nur an. Es ist, sagt Wolfgang Greyer, wohl auch eine Frage des Alters, wenn eine Generation „ins Essen kommt“, also sich zu Hause verabredet und die Herdplatten anwirft und mit allem einen neuen Ehrgeiz verbindet.

Sie suchen dann an den Wochenenden die Wälder auf, oder sie buchen einen Kurs bei einer Kräuterfrau, sie kaufen sich ein Bestimmungsbuch, sie durchstreifen die Brachen der Stadt, das Südgelände in Schöneberg, wo Brombeeren wachsen, den Tiergarten, wo man wilden Schnittlauch findet, Ackerränder, wo Brennnesseln staken, den Plänterwald mit seinen reichen Vorkommen an Bärlauch, den Grunewald besuchen sie für seine Kirschen, die Gneisenaustraße für Haselnüsse, Wälder für Waldmeister und stille Wohnstraßen für Lindenblüten. Sie meiden bei den Bodenkräutern stark befahrene Straßen und Hundeauslaufstellen. Sie tauschen selbst gemachte Marmeladen. Vielleicht fällt ihnen auf, dass in den Restaurants der Stadt alles, was „wild“ wächst, inzwischen ein Trend geworden ist, vielleicht kaufen sie sich das Buch „Kräuter“ des Sternekochs Michael Hoffmann. Sie bemerken, dass Berlin eine der grünsten Städte ist.

Und dieses Grün ist zwar kostenlos, doch nichts, das billig zu haben wäre. Man muss es sich mit Wissen verdienen. Und mit Zeit. Und am Ende, wenn man die Delikatessen im Regal stehen hat, war es noch erbaulich für den Charakter.

Denn es fördert die Sorgfalt. Mit der unterscheidet Wolfgang Greyer den Bärlauch von den giftigen Maiglöckchen, und mit ihr liest er die kleinen Tierchen aus den Holunderbeeren.

Es lehrt Maßhalten, denn wenn man Bärlauch mit der Wurzel ausreißt oder Pilze zu tief abschneidet, ist im nächsten Jahr nichts mehr da. Und wer den Holunder zweimal ernten will – einmal die Blüten für Sirup und Gelee, einmal die Früchte für Saft und Wein –, darf im Frühjahr nicht alle Blüten gepflückt haben.

Es trainiert die Geduld. Zwar gibt es Blätter, Triebe, Blüten und Früchte fast das ganze Jahr, doch jede für sich ist eine flüchtige Erscheinung. Man muss sich nach ihnen richten, nicht umgekehrt. Zuerst ist lange Zeit nichts da, man wartet auf die Reife – und dann gibt es schlagartig für kurze Zeit von allem zu viel. Da bricht die Eile aus. Da braucht man Helfer. Da hat man was zu verschenken.

Am Ende hat man kein Schnäppchen gemacht, sondern ein Geschenk bekommen.

Wer die wilden Früchte sammelt, braucht Planung, Zeit und Geduld – und damit ist diese Tätigkeit genau das Gegenteil der Idee von einer Stadt. Denn liegt der Reiz der Großstadt nicht im Prinzip der Verfügbarkeit, darin, dass die ganze Welt zu haben ist, solange Importeure, Spätkaufs und Tankstellenshops zu allen Jahres- und Tageszeiten eine Versorgung mit allen denkbaren Gütern garantieren?

Der Reiz Berlins liegt für viele darin, dass die Stadt so grün ist. Aber nur ein Prozent der Menschen, die gerne Grün sehen, interessiert sich für Botanik, sagt Herbert Sukopp. Für den emeritierten Professor der Stadtökologie, 78, teilt sich das Jahr in die Blütezeit der Pflanzen, und die Geschichte Berlins fächert sich auf in deren Vorkommen und Nutzung. Es ist langweilig, wenn alle immer nur sagen, dass man Löwenzahn auch essen kann, man kann ja noch so viel mehr essen, die Hälfte aller Pflanzen. Die essbare Stadt hat außerdem eine historische und soziale Komponente.

Sukopp perlen die botanischen Namen der Pflanzen von den Lippen, sein Balkon blüht, ein Sessel ist mit Blütenmuster bezogen, auf dem Tisch liegt eine mit einem Efeumotiv bestickte Tischdecke, zurzeit arbeitet er an einem Berliner Blütenatlas, in dem er und andere Mitglieder der Botanischen Gesellschaft die Vorkommen gänzlich ungeplanter Wildpflanzen in Planquadrate eintragen.

Sukopp, Berliner und auch heute noch Bewohner dieser Stadt voller Zuzügler – auch pflanzlich gesehen –, hat nach dem Krieg die Wurzel der zweijährigen Nachtkerze, Schinkenwurzel genannt, ausgegraben und gekocht als Gemüse benutzt. „Aber wir haben wohl nie den richtigen Reifegrad erwischt“, und wenn er ehrlich ist, erinnert er sich nur noch an einen faden Geschmack. Auf seinen Knien liegt das Buch mit der Erwähnung des Rezeptes von 1812.

Er erzählt von dem findigen Berliner, der im Nachkriegsberlin bemerkte, dass man von der ungarischen Rauke, die auf Trümmern gut wächst, in aller Schnelle viele Samen sammeln kann. Er erzählt, wie daraufhin eine Ölmühle in Spandau für die ganze Stadt aus Samen Öl presste – einen Liter aus fünf Kilo Samen.

Er beschreibt die späte Traubenkirsche, Prunus serotina, die man um 1900 im Grunewald eigens eingeführt hat zur Verbesserung des Bodens, die dann aber derart Platz nahm, dass man sie heute verzweifelt rodet. Zurzeit sind die Kirschen reif, das Problem der Förster schmeckt ganz gut in Marmelade und im Rumtopf.

Sukopp erzählt, dass der Name des Ortes Hoppegarten nicht etwa von hoppe, hoppe Reiter kommt, sondern vom Hopfen, der heute wild in Berlin vor allem im Umkreis der alten Brauereien zu finden ist, und dass man die jungen Triebe der Kletterstaude im Frühjahr als sogenannten „Hopfenspargel“ essen kann.

Es gibt sehr gute Bestimmungsbücher, mit denen man anfangen kann, hatte Wolfgang Greyer gesagt. Es gibt www.floraweb.de. Aber es gibt auch eine Scheu bei Menschen, die das erste Mal losziehen. Man muss sie ablegen. Er selbst hat diese Scheu zuletzt gespürt, als seine Freundin ihm zeigte, dass man auch die roten, süß schmeckenden Früchte der giftigen Eibe essen kann – wenn man nur nicht auf den Samen beißt und ihn schnell wieder ausspuckt, denn dort sitzt das Gift.

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