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Fotografie: Gesichter, die „ich“ sagen

Stadtfotograf, Landfotograf: Zum Tod des großen Berliner Bildkünstlers Roger Melis.

Ein Fotograf ist auch nur ein Scharfschütze. Allein die Treffer zählen. Er muss ein Kämpfer sein: Niemand tritt mir vors Objektiv! Und was heißt, ein Modell will seine Pose nicht einnehmen? Es muss. Gibt es das, einen scheuen Fotografen?

Roger Melis verkörperte das Paradox seines Berufsstandes: ein Mann mit Kamera, der den Menschen nicht zu nahe treten wollte, dabei tun Fotografen nichts anderes. Aus so einem wird entweder ein Versager oder ein Künstler. Das Leben entschied sich für Letzteres. Ein Künstler, ja. Und darum war nichts gekünstelt an ihm und seinen Bildern. Die bloßen Realisten gelangen nie zum Realismus. Er ist eine Angelegenheit des höchst artifiziellen Blicks.

Wer heute wissen will, wie die DDR aussah ab Mitte der sechziger Jahre, ihre Städte, vor allem aber ihre Menschen, sollte Melis‘ Fotografien sehen. „Unsere Menschen“, sagte die DDR gern. Auf seinen Bildern aber legte sich die Scheu des Porträtisten wie ein Schutzraum um die Porträtierten. Vom Ich zum Wir, so hieß das Ideal des Landes, in dem er groß wurde. Aber selbst auf seinen Gruppenbildern zerfiel das Wir sofort in lauter Gesichter, die, wie absichtslos auch immer, „ich“ sagten. Hätte die DDR nur richtig in diesen Spiegel geschaut, der seine Fotografien waren, sie hätte schon viel früher den Mut verlieren müssen. Hat sie die Schönheit auf diesen Bildern bemerkt, eine Schönheit des Flüchtigen, des Beiläufigen, des Vergänglichen auch? Sie hätte sie wohl nicht erkannt.

Merkwürdig genug, schien Melis‘ Ruhm in den letzten Jahren erst richtig zu beginnen. Vielleicht seit der Lehmstedt-Verlag mit seiner Werkausgabe anfing. „Aus einem stillen Land“ heißt der schöne Band mit Fotografien, die zwischen 1965 und 1989 entstanden. Und plötzlich sahen es alle: das war viel mehr als ein Bilderbuch, das war ein Geschichtsbuch. Und es besaß, was jedem Geschichtsbuch sonst fehlt: eine große Zärtlichkeit für seine Nichthelden. Vielleicht war das für die Melis-Kenner am überraschendsten.

Denn in der DDR kannten und liebten wir einen anderen Melis. Er hat getan, wovon die Bewohner des stillen Landes träumten. Er ist durch Paris gelaufen und sein Bildband „Paris zu Fuß“ wurde ein Bestseller. Als wir die Stadt dann selbst sahen, sahen wir sie noch immer mit dem Melis-Blick. Melis, der Städte-Fotograf.

Es gibt auch den Zimmer-Fotografen Roger Melis. Wolf Biermann ist auf dem Chausseestraßen-Plattencover nur ein Teil seines Wohnzimmers, ein Stück Interieur. Melis, der Künstlerfotograf. Ob es Anna Seghers ist, Franz Fühmann oder Stephan Hermlin – das Bild, das wir bei diesen Namen vor uns sehen, ist nicht selten ein Melis-Bild. Unabweisbar fast jedes Mal der Eindruck: Die Menschen geben vor seiner Kamera etwas von sich preis, beiläufig und unübersehbar.

Der Sohn des Bildhauers Fritz Melis, Jahrgang 1940, wurde in der Familie des Dichters Peter Huchel groß, zuerst im Berliner Westen, dann in Wilhelmshorst bei Potsdam. Er machte eine Fotografenlehre und fand sich in der Charité wieder. Melis, der Krankenhaus-Fotograf. Er hatte die Wahl: Wegschauen, wenn das Messer in die Haut dringt oder ein gutes Foto machen. Das Gefühl für diesen alles entscheidenden, chirurgischen Moment ist ihm geblieben. Nur kündigt ihn im Leben niemand an. Vielleicht ist Fotografieren letztlich genau das – warten zu können, bis der Zeitpunkt da ist. Roger Melis ist ein Meister der diskreten Indiskretion geworden.

Aber braucht die, wer Mode fotografiert? Die Sachverständigen, die Frauen also, sind sich bis heute nicht einig, ob es so etwas wie Mode – im strengen Sinne – in der DDR überhaupt gab. Sicher ist: Eine große Modezeitschrift und große Modefotografie gab es. Die Zeitschrift hieß „Sibylle“, und deren Redakteurin Dorothea Bertram wurde bald Melis‘ Frau. Alle großen Fotografen der DDR sind durch die Schule der Modefotografie gegangen und machten aus der Not eine Tugend. Sie zeigten immer mehr als bloße Mode.

Melis, den Dorffotografen, gab es bis zuletzt. Seine Frau und er haben in der Uckermark früh eine Zuflucht vor zu viel Berlin gefunden. Dass dieser merkwürdige Städter nie ohne seinen Fotoapparat kam, nicht zur Hausschlachtung eines Schweins, nicht zur Dorfhochzeit, fiel bald keinem Bauern mehr auf.

Am gestrigen Freitag ist Roger Melis nach langer schwerer Krankheit im Alter von 68 Jahren in Berlin gestorben.

Sonntag im Tagesspiegel: Der Schriftsteller Rolf Schneider über Roger Melis.

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