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Im Bann der Musik. Grammy-Gewinner Kirk Franklin singt mit dem Chorensemble „One in Song“ bei der Eröffnungsfeier den von ihm komponierten Song „I can“.

© Roger Schmidt

Gesangswettbewerb: Olympia der Chöre

In Cincinnati, Ohio, treffen sich derzeit tausende Menschen aus der ganzen Welt, um zu singen. Auch Teilnehmer aus Iran und Venezuela sind dabei.

Die Stadt sprüht voller Energie – trotz der ungewöhnlichen Sommerhitze von bis zu 40 Grad. Am Fountain Square drängen sich die Passanten unter den Schatten spendenden Sonnenschirmen zusammen oder setzen sich auf den Brunnenrand, wo der Sprühregen der Wasserspeier etwas Kühlung verspricht, während sie einem dänischen Chor lauschen, der „It’s Raining Men“ singt. Zwei Straßenblocks weiter dringen afrikanische Gesänge aus dem Convention Center, als sich die Türen öffnen und einen Schwarm fröhlich schnatternder Mädchen aus China auf die Straße entlassen. Sie tragen alle die gleichen Kleidchen in exotischen Farben und haben einen Zierkamm in die hochgesteckten dunklen Haare gesteckt.

Welt-Chor-Olympiade? Vor wenigen Jahren hatte kaum jemand in Cincinnati gewusst, dass es sie gibt. Inzwischen ist sie der Gesprächsstoff der Stadt und das Hauptthema der Lokalzeitungen. Die gefragteste Rubrik ist der Ratgeber, wo es noch Karten gibt. Einen solchen Run auf Tickets hat Günter Titsch, Chef von Interkultur und der Erfinder des Chor-Wettbewerbs, an keinem anderen Austragungsort erlebt. Die ganze Stadt – Politik, Wirtschaft, Bürger – scheint die Olympiade zu ihrer Sache gemacht zu haben und feiert ein Sommerfest der Völkerbegegnung. Polizisten weisen den Weg zu den über die Innenstadt verteilten Bühnen. Und sie belassen es bei einer Ermahnung, wenn Mitglieder des Basler Männerchors am späten Abend voll bekleidet in den Brunnen steigen oder türkische Jugendliche auf offener Straße ein Bier trinken. In den USA sind solche Dinge verboten.

In einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung lernt Cincinnati, wie ansteckend und wie vielfältig das Singen sein kann. Es ist ungewohnt für Amerikaner, dass bei der Halbzeit einer Olympiade noch kein einheimisches Team einen Titel in einer der vielen Disziplinen geholt hat: Kinder-, Jugend-, Knaben-, Mädchen-, Männer- und Frauenchöre, dazu gemischte Ensembles – und das aufgegliedert nach Stilrichtungen wie Sakralmusik, Gospel, Jazz, Pop, Folklore und vieles mehr.

Ausgerechnet China, der einzige ernsthafte Rivale um den Status der politischen Supermacht, hat bisher die meisten „Champions“-Auszeichnungen gewonnen, gefolgt von Südafrika, den Niederlanden, der Schweiz – und Venezuela, dessen Staatschef Hugo Chavez gerne als Anführer der USA-Kritiker auftritt.

Doch die Qualität dieser Chöre erkennen die Zuhörer neidlos an, als die frisch gekürten Sieger dieser „World Choir Games“ in sogenannten „Champions“-Konzerten ihre prämierten Songs vorführen. Was menschliche Stimmen doch alles ausdrücken können! Sie säuseln, summen, zischen, quäken, klagen und lachen. Sie sind ihre eigenen Begleitorchester und imitieren Hörner, Flöten Bässe, Trommeln – oder auch Tiere. Hinzu kommen fantasievolle Choreografien. Die Sänger laufen, tanzen, springen, wälzen sich am Boden, finden sich zu Paaren und Gruppen und stieben wieder auseinander.

Venezuela, Sieger in Folklore, wird mit Standing Ovations gefeiert. „Dekoor Close Harmony“ aus den Niederlanden, Champion in den Kategorien Jazz und Popular Music, provoziert ausgelassenes Gelächter, als das Ensemble die morgendlichen Staus verspottet – „Damn, this traffic jam, how I hate to be late“ – und das absehbare Ende fossiler Brennstoffe beschwört. Die musikalische und sprachliche Präzision, mit der chinesische Chöre lateinische, europäische und amerikanische Werke interpretieren, erntet Begeisterung. Der „Stellenbosch University Choir“ rührt viele im Saal mit seinem „Gebet für die Demokratie“ zu Tränen.

Auch wenn den Amerikanern die höchsten Medaillen bei der Chor-Olympiade noch fehlen, so haben sich die Bürger von Cincinnati nach Meinung vieler Teilnehmer längst den Titel der „Champions“ in Sachen Gastfreundschaft und Organisation verdient. Russen, Türken, Brasilianer und andere äußern immer wieder Erstaunen, wie freundlich und hilfsbereit die Passanten sind, nach Herkunftsländern fragen und das Gespräch suchen.

Als „typisch amerikanisch“ gilt auch die unbefangene Kooperation der lokalen Organisatoren, Politiker und Wirtschaftsmanager. Hauptsponsor Procter & Gamble hat die Gäste mit ganzseitigen Anzeigen „Danke an alle Mütter!“ empfangen. Ohne ihre Fürsorge keine künftigen Chorsänger. Werner Geissler, Vizechef des Weltkonzerns und damit einer der höchstrangigen deutschen Manager in den USA, sinniert in der kurzen, witzigen Begrüßung beim Empfang im Hauptquartier des Konzerns, wie viele der Sänger von unterschiedlichen Kontinenten zumindest eines gemeinsam haben: Sie sind mit „Pampers“ gewickelt worden und im Zweifel auch mit einem Waschmittel aus dem Hause „P&G“ aufgewachsen. Eine Zehn-Kilo-Papp-Tonne Ariel in einer Vitrine erinnert die älteren deutschen Gäste an Werbespots mit Clementine.

2014 werden viele sich bei der Chor-Olympiade in Riga wiedersehen. Die Balten wissen am besten, welch befreiende Kraft Musik haben kann. Esten und Letten haben mit Sängerfesten zum Sturz der Sowjetdiktatur beigetragen.

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