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Ein großer Tag. Junge Bewohnerinnen der Favela Mangueira brechen zum Debütantinnen-Ball auf. Früher konnte er wegen marodierender Banden nicht stattfinden. Foto: Silvia Izquierdo/dapd

© dapd

GESPALTENES LAND: Die neuen Gesichter von Rio Frieden am Zuckerhut – Krieg in Sao Paulo

Seit das Militär Slums von Banden befreit hat, blüht dort das Leben auf – die Stadt soll für die WM 2014 und Olympia erstrahlen.

Vagner Machado hat jetzt eine Adresse: Rua Dr. Nelson 32, Chapeu Mangueira. Das nagelneue, gelbe Straßenschild auf der roten Ziegelsteinmauer ist nicht zu übersehen. Eine Adresse, das ist in Brasilien so viel wie eine Existenzberechtigung. Ohne sie kommt kein Lebenslauf aus, ohne sie gibt es keine Steuernummer, kein Bankkonto. Vagner Machado ist jetzt 38 und mächtig stolz auf seine neue Existenz. In den engen Gassen seines Slums, oberhalb des weltberühmten Strandes von Copacabana, lieferten sich noch vor drei Jahren verfeindete Drogenbanden Feuergefechte, kassierten Schutzgelder und stellten demonstrativ ihre schweren Waffen zur Schau. „Wir waren Geiseln und Teil eines enormen illegalen Netzwerks“, sagt er. Vor vier Jahren nahmen Polizei und Militär die Favela ein. Ihre Übermacht war derart groß, dass die Kriminellen nach anfänglichem Widerstand rasch die Flucht ergriffen. Und dann geschah das Wunder.

„Die Sicherheitskräfte gingen nicht wie sonst immer, sondern sie blieben“, erzählt Vagner. Jetzt herrscht Frieden in Chapeu Mangueira. Fast 100 Polizisten laufen seither rund um die Uhr Streife in dem Armenviertel, das sich steil den Hang hinaufzieht und in dem 6000 Menschen leben. Andere staatliche Institutionen folgten und eroberten nach und nach die einst rechtsfreie Zone zurück. Die Müllabfuhr kam, eine Kinderkrippe wurde eingerichtet, es gibt Sportkurse für Jugendliche, Nähkurse für Frauen, eine Gesundheitsstation. „Befriedete Favelas“ heißt das Konzept, das sich Sicherheitsminister José Mariano Beltrame ausgedacht hat, um das Image der Stadt vor der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Spiele 2016 aufzupolieren.

Dort, wo früher die Drogengangs herrschten und Misere, Gewalt und Vernachlässigung das Bild bestimmten, blüht inzwischen das Unternehmertum, und Prominente wie Madonna und Lady Gaga lassen sich in den Favelas ablichten. Vagner hat eine Jugendherberge aufgemacht, das „Favela Inn“, und auch viele Nachbarn wurden Kleinunternehmer. In der Bar auf halber Höhe des Hügels serviert Inhaber David Anwohnern und Touristen Caipirinhas, die halb so teuer sind wie in Copacabana. „Der schöne Blick ist gratis“, scherzt er. Eine Nachbarin hat im Gewirr der engen Gassen einen Frisörsalon aufgemacht, ein anderer einen Waschsalon für Hunde, ein dritter einen Tante-Emma-Laden. Überall wird gemauert, gesägt, gehämmert. Die Immobilienpreise in den „befriedeten Favelas“ haben sich verzehnfacht.

Im „Maze“ in der Favela Tavares Bastos finden die besten Jazzkonzerte von Rio statt, in Vidigal die heißesten Parties, die Favela von Dona Marta, in der einst Michael Jackson die Drogenbosse bestechen musste, um den Clip zu seinem Video „They don’t care about us“ zu drehen, ist eine Attraktion, wo sich Besucher sicher fühlen können. Ein von Künstlern mit bunten Wandbildern und mit einer Bronzestatue von Michael Jackson gestalteter Platz bietet eine fantastische Aussicht auf die Stadt. Dort verkauft die 25-jährige Claudia Souvenirs. „Früher konnte ich hier nicht mal auf der Straße spielen, jetzt kann ich in aller Ruhe meinen Schmuck verkaufen. Und das Geschäft läuft“, sagt die Frau zufrieden und wendet sich ein paar französischen Touristen zu, die mit der Zahnradbahn gekommen sind. Auch immer mehr Brasilianer erklimmen den steilen Hügel und besuchen zum ersten Mal in ihrem Leben ein Armenviertel.

Ein kulturelles Highlight ist das Jugend-Streichorchester von Dona Marta, das schon zahlreiche Konzerte und TV-Auftritte hatte und auch vom deutschen Konsulat mitfinanziert wird. „Viele Firmen wollen Sozialprojekte sponsern, das ist einer der großen Erfolge der Favela-Befriedung, denn alleine aus dem Haushalt wäre das nicht zu finanzieren“, sagt Paula Serrano, Verwaltungschefin des Bürgermeisters von Rio. Die Stadt lässt sich auch so die Befriedung einiges kosten. Allein die Personalkosten belaufen sich pro besetzter Favela jährlich auf mindestens 60 000 Euro. Doch jetzt, vor den sportlichen Großereignissen, ist plötzlich Geld da; auch die Zentralregierung schießt kräftig zu.

„Wir haben unsere Strategie geändert“, erzählt Leutnant Gabriel Cavalcante im Polizeiposten, der wie ein Adlerhorst über dem Hügel von Dona Marta thront. „Früher machten wir Razzien auf feindlichem Terrain und gerieten dabei oft ins Kreuzfeuer. Jetzt haben wir das Gebiet besetzt und den Staat zurückgebracht.“ Mit gerade einmal 23 Jahren ist Cavalcante für die 115 Kopf starke Truppe der UPP-Militärpolizei von Dona Marta verantwortlich. Auch seine Untergebenen sind blutjung. Das hat System. Sie wurden extra in Bürgernähe geschult und gelten als unverdorben – im Gegensatz zu älteren Kollegen, die in der Bevölkerung als brutal und korrupt verschrien sind. Seit Cavalcante in Dona Marta das Sagen hat, gab es keinen einzigen Mord mehr.

90 Prozent der Einwohner sind zufrieden, ergab eine Umfrage. Fundamentalkritik gibt es selbst von linker Seite kaum. Bedenken schon. Von den rund 900 Favelas in Rio sind gerade einmal 30 befriedet, in den übrigen herrschen weiterhin Banden. Die meisten der befriedeten Favelas liegen in der Südzone – ein gefundenes Fressen für Spekulanten. In ihnen kaufen sich mittlerweile nicht mehr nur Künstler und ausländische Abenteurer Immobilien, sondern auch Unternehmer wie der brasilianische Milliardär Eike Batista. Nicht in allen gibt es schon Sozialprogramme und Infrastruktur wie Abwässerkanäle. Reguläre Festanstellungen bekommen die meisten Favelabewohner mangels Ausbildung nicht, Brasiliens Schulwesen ist weiterhin katastrophal. Und nicht überall haben die Polizeikommandeure ihre Truppe so gut im Griff wie Leutnant Cavalcante, mancherorts mussten ganze Einheiten ausgewechselt werden, weil sie sich bestechen ließen. Mit Drogen wird weiterhin gedealt – nur diskreter. Früher verboten die Mafiabosse den Verkauf der besonders verheerenden Droge Crack. Heute ist der Crackkonsum unter Jugendlichen stark angestiegen. Doch statt Prävention setze die Regierung auf Repression, kritisiert der Sozialarbeiter Cesar Marques. „Regelmäßig gibt es Razzien, und die Drogenabhängigen werden vertrieben oder zwangsinterniert.“

Und – darin liegt für Kritiker das größte Manko – das Konzept ist bisher beschränkt auf Rio. Viele der vertriebenen Kriminellen sind ausgewichen auf das Umland; in Niteroi, Petrópolis und Vitória steigt die Kriminalität. Vagner macht sich Sorgen, dass alles vielleicht nur ein schöner, zeitlich befristeter Traum ist, und der Staat sich nach 2016 wieder aus seiner Verantwortung stiehlt. „Das wäre eine Tragödie“, sagt er. „Aber wir werden das nicht zulassen.“

Während Rio de Janeiro in weiten Teilen befriedet ist, hat Sao Paulo die Arbeit noch vor sich. Erst jetzt haben dort Sonderkommandos begonnen, nach dem Vorbild von Rio die Favelas von kriminellen Banden zu befreien. Diese schlagen zurück. Im Oktober wurden 176 Menschen ermordet, doppelt so viel wie im Oktober 2011. Die Gewalt machte Schlagzeilen, weil heute dort das letzte Formel-1-Rennen der Saison stattfindet. Die Anfänge der Bandenbekämpfung in Rio wurden 2007 eindrücklich in dem Film „Tropa de Elite“ beschrieben. Es war einer der größten Publikumserfolge in Brasilien, mit dem Regisseur Jose Padilha dazu beitrug, dass ein zunächst punktuelles Sicherheitsprojekt in eine umfassende Strategie zur Korruptionsbekämpfung und Erneuerung mündete. Der linksorientierte Regisseur handelte sich wegen der Folterszenen aber auch Faschismusvorwürfe ein. Die Berlinale zeichnete den Film 2008 mit dem Goldenen Bären aus. Tsp

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