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Gesundheit: Die neue Nacktheit unseres Körpers (Leitartikel)

Die Gerechtigkeit darf nicht unablässig analysiert und gewogen werden. Ähnlich wie die Liebe wird sie durch zu große Genauigkeit zerstört.

Die Gerechtigkeit darf nicht unablässig analysiert und gewogen werden. Ähnlich wie die Liebe wird sie durch zu große Genauigkeit zerstört. Leider gibt es einen ernsten Anlass, neu darüber zu reden. Die Entschlüsselung der Gene wird unser Verständnis von Gerechtigkeit umstürzen, und, wenn wir nicht genau aufpassen: zerstören.

Jeder Mensch, vor allem jeder junge Mensch, soll - so weit geht heute der Konsens - die gleiche Chance haben, etwas zu werden. In früheren Zeiten war das anders. Wer arm geboren wurde, starb arm. Wer Bauer war, konnte nie Fürst werden. Das hat sich grundlegend geändert. Die Gesellschaft ist sozial durchlässig geworden. Wer sich Verdienste erwirbt, kann überall hinkommen. Wer die entsprechende Bildung will, kann sie bekommen. Unser Kanzler ist das Kind einer Putzfrau und eines Kirmesarbeiters. Und unser Gesundheitssystem sorgt dafür, dass man Armut nicht mehr erkennen kann. Jedenfalls nicht mehr an den Zähnen.

All das sind großartige Errungenschaften. Weil wir darauf stolz sind, sprechen wir ungern über einen Faktor, der die Chancengleichheit verletzt, ja beleidigt. Es geht um ein Tabu: um Schönheit. Ob ein Kind hübsch aussieht, anmutig, gar schön oder ungewöhnlich, ungeschlacht, gar hässlich - das Urteil bestimmt von Anfang an seine Stellung in der Familie und in der Schule mit. Wer nicht schön ist, hat es lebenslänglich schwerer, ohne daran viel ändern zu können.

Man soll sich hier nicht belügen. Es ist nicht der eine auf diese, der andere auf jene Weise schön. Die Geschmäcker sind nicht sehr verschieden. Nein, auf diesem Feld herrscht ein unsichtbarer, aber wirksamer Rassismus, freundlicher und englisch ausgedrückt: lookism. Die Körperlichkeit beschränkt die Chancengleichheit. Nun hat der Körper zwei Dimensionen: sein Aussehen und seine Tauglichkeit. Schönheit und Gesundheit. Bisher war diese zweite Dimension, die Zukunft unseres Körpers, hinter einem wohltuenden Schleier des Nichtwissens verborgen. Genauso wie die Zukunft der Körper anderer Menschen, jener, in die wir uns verlieben, und jener, mit denen wir zusammen in eine Krankenversicherung einzahlen. Darin findet jener Rassismus bis heute seine Grenze.

Ich kann einen schönen Menschen heiraten. Doch seine Körperzukunft kenne ich nicht. Wer am Ende wen pflegen muss, weiß man normalerweise nicht. Auch nicht, ob das AOK-Mitglied neben mir im Laufe seines Lebens ein teurer Patient wird oder aber ich selber. Auf diesem Nicht-Wissen fußen die Humanität menschlicher Verbindungen und die Solidarität in den Sozialsystemen.

Man sollte sich auch darüber keine Illusionen machen. Die Bereitschaft zur Solidarität mit den Schwachen entspringt auch der Möglichkeit, dass jeder von uns ein Schwacher werden kann. Das alles will die Gentechnologie nun ändern. Durch die Entschlüsselung der Gene können wir wissen, ob wir mit hoher Wahrscheinlichkeit lebenslang einen leidlich gesunden Körper haben - oder ob wir nur eine Ruine auf Abruf sind. Dass wir selber das wissen können, ist brutal. Dass die Krankenkasse es wissen will, ist gefährlich. Dass auch jemand, den wir lieben, es von uns wissen können will, bevor er sich dauerhaft an uns bindet - das wäre schlicht inhuman.

Unglücklicherweise kann die Gentechnologie viel mehr diagnostizieren, als sie zu heilen vermag. In dieser tiefen Kluft zwischen Diagnose- und Therapiefähigkeit liegt die Gerechtigkeitslücke der Zukunft. Wir sollten uns wirklich gut überlegen, ob und inwieweit wir den Schleier des Nichtwissens zerreißen wollen.

Wir stehen vor einer neuen, ganz anderen Gerechtigkeitsdebatte. Dagegen sind die Diskussionen um Aktiengewinne und Lohnerhöhungen harmlose Plauderei, sind bereits von gestern. Vor den künftigen Debatten fürchten wir uns noch. Die Furcht sollten wir überwinden.

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