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Gesundheit: Die Traumdeuter

Sigmund Freud und Heinrich Heine sind die Jubilare des Jahres: Was den Psychoanalytiker mit dem Dichter verbindet

Vielleicht hat niemand mehr über diesen Monat gewusst als Heinrich Heine. Die großen Fenster im Berliner Literaturhaus Fasanenstraße sind weit offen. Davor steht der Mai, vorn am Podium steht ein weißhaariger Mann, und seine Zuhörer drängen sich noch im Vorraum und die große schöne Holztreppe hinunter. Klaus Heinrich denkt nach über Freud und Heine. Der einstige studentische Mitgründer der Freien Universität und spätere Professor für Religionswissenschaft an der FU spricht nicht sehr laut, das hat er noch nie getan. Aber wie immer scheinen ihn alle zu verstehen. Vielleicht auch, weil in seinem Munde selbst die entlegenste mythische Konstellation zur brisanten Gegenwartsfrage wird. Oder eben Sigmund Freud. Bis eben folgten die Gedenkreden zum 150. Geburtstag eher dem Tenor: Hat uns Freud heute noch etwas zu sagen? Nichts von diesem musealen Ton bei Heinrich. Er glaubte ohnehin nie, dass die Geschichte Geschichte ist. Oder gar die Psychoanalyse. Oder Heine. Nicht alle, die begraben sind, sind schon tot, wusste Heine.

Aber was macht ein Religionswissenschaftler auf einem Germanistentreffen? Und kein Psychoanalytiker weit und breit. Vor allem aber: Was hat Heine mit Freud zu tun, der Dichter mit dem Wissenschaftler? Natürlich, beide waren Juden; der eine ist seit genau 150 Jahren tot und der andere wurde vor genau 150 Jahren geboren. Noch was? Nicht erst am Ende dieses vor Aktualität vibrierenden Symposiums war klar: Der Dichter war ein Dichter, indem er zugleich Philosoph, Zeit-Denker und Religionsgeschichtler war. Theologe jenseits aller Konfessionen. Und Traumdeuter natürlich. Was er mit ruhiger Gelassenheit von sich wusste. Und der Sofa-Traumdeuter wurde nur zum Begründer einer neuen Wissenschaft, indem er auch Religionsgeschichtler, Zeit-Denker und Gott-Mitwisser war. Und indem er die Dichter viel ernster nahm, als Wissenschaftler das gewöhnlich tun.

Wie Klaus Heinrich glaubten hier im Literaturhaus viele, dass die ältesten, scheinbar fremdesten Mythen noch auskunftsfähig sind über uns und die Katastrophen unserer Zivilisation. So wie Sigmund Freud es wusste. Und Heinrich Heine. Und ist Freud nicht wie eine große Fußnote zu Heine, die dann zum Hauptwerk wurde? Erst recht, wenn man Nietzsche nicht vergisst, der so exemplarisch zwischen beiden stand und dem Freud so viel verdankt. Insofern sind alle beide gar Kulturwissenschaftler der ersten Stunde.

„Die Enden der Literatur und die Anfänge der Kulturwissenschaft“ hat das „Zentrum für Literaturforschung“ sein Heine-Freud-Symposium genannt. Solche Formulierungen finden natürlich bloß Nicht-nur-Germanisten. Solche wie Klaus Briegleb, der große Heine-Herausgeber und Text-Biograf, ein Germanist, der zugleich Philosoph ist und natürlich ein Stück Religionswissenschaftler. Briegleb untersuchte Heines „Poetik der Affekte“ und erkannte in Heine gar den „Miterfinder der Psychoanalyse“, denn: „Die Revolution ist in ihm, sie braust in Affektketten, die kein Verhältnis zur Realgeschichte verraten. Sie stecken in Bildern des Traums und der Mythen fest, der Dichter befreit sie ein Stück weit (...) in die Sprache des hellen Tages.“

Die Germanistik hat immer genau zwei Möglichkeiten. Entweder sie bringt die Texte endgültig zum Schweigen – Begriffe können wie Grabsteine sein – oder sie bringt sie zum Sprechen. Hier gelang es oft gleich bei beiden, Freud und Heine.

Sigrid Weigel beobachtete zwei jüdische Intellektuelle unter „schlecht getauften Christen“ und fand im Begriff der „Latenz“ das wichtigste verbindende Glied zwischen beiden: Latenz, „eine Wirksamkeit von Erinnerungsspuren im Verborgenen oder Verdrängten“. Daniel Weidner zeigte, wie verwandt und doch grundverschieden das Wissen von der Bibel bei Freud und Heine war und wie sehr es doch in beiden Fällen „psychoanalytische Arbeit“ war: also „Lektüre entstellter Spuren“.

Dieses dreitägige Symposium war wie ein Pfadfinder-Treffen. Kaum hat man noch zurückgeblickt auf die vielen, die Freuds „abstruse“ Wissenschaft einst auslachten, und auf die Unzähligen, die – manche tun es bis heute – behaupteten, dieser Heine sei ja nun wohl alles, aber kein Denker gewesen. Bei einem nicht ganz unbekannten Kulturwissenschaftler nicht der ersten, wohl aber der dritten Stunde klang das so: „In Wirklichkeit hatte er (Heine) von den Elementen der Wissenschaft keine Ahnung. (...) Intellektuell war er schließlich nach vielem mitunter tiefem Nachdenken, Beschäftigungen mit schweren Schriften und schweren Problemen ungefähr ein Kindergemüt geblieben wie Frau Mathilde.“ Diese Stimme gehörte Wilhelm Dilthey. Und Dilthey wusste auch noch nachzutragen, dass das „Kindergemüt Heine“, eben weil es sich ins Reich des Denkens verlaufen hatte, „ein gewaltiger Faktor in den zerstörenden Mächten seiner Zeit gewesen ist“. Und als solcher gehöre er „nicht zum bleibenden Besitz unserer Nation“. Sind solche Diagnosen wirklich nur von gestern?

Wir leben wieder in einer Zeit der Entmischung, der Suche nach Eindeutigkeiten. Man interessiert sich nicht mehr so sehr für die Geschichten Gottes und der Gottheiten wie Heine und Freud. Beide sahen Gott zu auf seinem weiten Weg aus Ägypten, dem „Vaterland des Monotheismus und der Krokodile“ (Heine) bis in seine weltkompatible, universelle Vater-Jesu-Gestalt. Ein Gott mit Geschichte ist natürlich schon ein höchst fragwürdiger Gott. Aber fragwürdig ist uns schon genug, Gott sollte es nicht auch noch sein. Also lässt man seine Umrisse wieder fester werden, um sich besser anlehnen zu können. Auch das ist das neue Interesse an der Religion. Nur: wer sich anlehnen möchte, möchte nicht selten wieder besser ablehnen können (Freud!).

Da Heines philosophisch-religiöse-literarisch-kulturgeschichtliche Großessays vorsätzlich und schonungslos subjektiv sind, nahm der akademische Schulgeist sie lange nicht so ernst. Und was, wenn nur am Subjektivsten manchmal das Objektivste aufscheint? Dieser Gedanke schien in der Fasanenstraße vielen wunderbar vertraut. Ebenso wie Freuds Untersuchung des „Witzes und seiner Beziehung zum Unbewussten“. Der Gewährsmann Freuds war Heine. Denn das wussten beide: Im Spaß kann man manchmal sogar die Wahrheit sagen.

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