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Gesundheit: Lest die Texte!

Die Germanisten treffen sich in München – und kehren zu ihren Wurzeln zurück

Bis zu 400 Studenten hat Klaus-Michael Bogdal in seiner Vorlesung zu „Theorie und Literatur des 20. Jahrhunderts“ – das ist das typische Schicksal eines Professors im Massenfach Germanistik. Aber seit einiger Zeit beobachtet der Bielefelder Neugermanist Veränderungen an seinen Studierenden: „Die Leute lesen die Texte“, erzählt er. „Sie kommen regelmäßig, bereiten sich auf Klausuren vor und wechseln kaum mehr das Studienfach.“ Nach zwei Jahren Studium brächen nur noch zehn Prozent das Studium ab; früher waren es bis zu 60 Prozent. Die wundersame Wandlung der Bielefelder Germanistikstudenten – woher rührt sie?

Die Uni Bielefeld ist eine von zwei Modell-Hochschulen, die vor zweieinhalb Jahren den Bachelor-Studiengang Germanistik eingeführt haben, eine Reform, die bis spätestens 2010 alle deutschen Hochschulen vollzogen haben müssen. Klarere Vorgaben, ständige Leistungsnachweise, die in die Endnote einfließen, Anwesenheitskontrollen – Bogdals Erfahrungen mit dem neuen System sind überwiegend positiv. Doch er warnt: „Wenn Hochschulen gezwungenermaßen, in Eile und mit wenig Geld Studiengänge zusammenschustern, kann das zu einer Verschulung im negativen Sinne führen.“

Bringt die Umstellung der bisherigen Magister- und Lehramtsstudiengänge auf Bachelor und Master einen Niveauverlust? Eines von vielen Themen, die die rund 700 Besucher des Germanistentags in München beschäftigen werden, der am Sonntag eröffnet wird. Hochschulgermanisten und Deutschlehrer werden über ein breites Spektrum von Themen diskutieren, von der mittelalterlichen Mariendichtung über die „Kulturelle Praxis kollektiven Vergessens“ bis hin zur Leseförderung mit Hilfe von Hörbüchern. Was die Forschung in den letzten zehn Jahren stark beschäftigt hat – die Sprachen der Erinnerung, Wissen in unterschiedlichen medialen Kontexten, Fachgeschichte –, findet sich in dem Programm ebenso wie die Frage, die Klaus-Michael Bogdal als Zukunftsaufgabe sieht: „Was kann und soll eine Kultur speichern, archivieren? Müssen wir jeden Dichter edieren? Oder sollten wir bewusst vieles vergessen? Dabei bestünde aber die Gefahr, dass wir, symbolisch gesprochen, die Anna-Amalia-Bibliothek noch einmal abbrennen lassen.“

In gewisser Weise hat die Bachelor- und Master-Frage mit alldem zu tun. Denn bei jedem neuen Studiengang wird gefragt: Müssen sich die Studierenden damit beschäftigen? Was sind die Grundlagen, die Kernaufgaben des Fachs? Diese Fragen sind für die Germanistik, die ihre Fühler weit in die Philosophie, Kultur- und Medienwissenschaft ausstreckt, besonders schwer zu beantworten.

Eine Kernaufgabe des Fachs dürfte in Zukunft wieder stärker in den Vordergrund rücken: nämlich schlicht etwas für die deutsche Sprache zu tun. Das beginnt bei der Aufgabe, die künftigen Deutschlehrer zu befähigen, ihren Schülern niveauvolles, wirksames Reden, Schreiben, Präsentieren beizubringen – Aufgaben, die in den Deutsch-Rahmenplänen eine immer wichtigere Rolle spielen, wie der designierte Vorsitzende des Fachverbands Deutsch, Fritz Tangermann, sagt.

Und es reicht bis zur europäischen Sprachenpolitik, in der das Deutsche seinen Rang nicht nur als Wissenschaftssprache zu verlieren droht. Der Linguist Konrad Ehlich, Erster Vorsitzender der Gesellschaft für Hochschulgermanistik, fürchtet: „Wenn man die Entwicklung naturwüchsig weiterlaufen ließe, ergäbe sich in Europa ein pidginisiertes Englisch als Verkehrssprache in Politik, Bildung, Wissenschaft und darunter folklorisierte Varianten der Nationalsprachen.“ Ehlich wünscht sich eine „Agentur für deutsche Sprache“, die, mit Autoren, Linguisten, Journalisten, Politikern besetzt, die „Belange der deutschen Sprache“ in europäischen Institutionen oder auch in Fragen wie der Rechtschreibreform vertreten würde. Das Ziel: ein mehrsprachiges Europa, in dem jeder zwei Fremdsprachen beherrscht und eine weitere versteht.

Die Germanisten werden sich in München auch mit sich selbst beschäftigen. Eine erste Bilanz soll gezogen werden, wie es der ostdeutschen Germanistik nach 1990 ergangen ist: Petra Boden, Leiterin eines Workshops über die „institutionelle Abwicklung der ostdeutschen Germanistik“, schätzt, dass es „eine Schrumpfung um 70 bis 80 Prozent“ gegeben hat. Ein Verlust nicht nur für die betroffenen Individuen, findet Petra Boden: „Die Lehrerausbildung in der DDR war stärker an den Bedürfnissen der Schulen orientiert, die Betreuung der Studierenden war gründlicher, und auf Forschungsgebieten wie der Exil- oder der Gegenwartsliteratur gab es in der DDR ein größeres Potenzial.“ Wenigstens eines habe der Westen von der DDR gelernt: die Vorzüge außeruniversitärer Forschung zu nutzen, wie sie in den geisteswissenschaftlichen Zentren betrieben wird, etwa dem „Zentrum für Literaturforschung“, einer Nachfolgeinstitution der DDR-Akademie der Wissenschaften.

Schon einmal hat ein Germanistentag in München stattgefunden, und an dieses denkwürdige Treffen erinnert ein Workshop: Im Jahre 1966 konfrontierten Eberhard Lämmert, Walter Killy, Karl Otto Conrady und Peter von Polenz das Fach erstmals mit seiner NS-Vergangenheit und forderten Reformen, die den Wandel der Germanistik einleiteten – von einer Nationalphilologie mit rein literarischer Ausrichtung hin zu einem Fach, das sich erst der Sozialgeschichte, später der Kulturwissenschaft öffnete, die Linguistik als eigenes Fach neben der Literatur und der Mediävistik einführte, die Didaktik institutionalisierte und Anschluss an europäische Strömungen suchte.

Die Germanistik hat seitdem eine „begrüßenswerte Vielfalt“ von Themen hervorgebracht – so bewertet Eberhard Lämmert, der sich an die „Totenstille“ nach den Vorträgen 1966 erinnert, die Entwicklung gegenüber dem Tagesspiegel. Aber er sieht auch „eine Zerstreuung, die es schwierig macht, sich darüber zu verständigen, was den Mittelpunkt des Faches bildet“. „Zentrumsflüchtig“ nennt er die Germanistik und stellt fest: Kaum die Hälfte der Bachelor-Studiengänge, die zur Akkreditierung anstehen, setzen die Beschäftigung mit Literatur ins Zentrum. „Das Interdisziplinäre hat große Zugkraft“, sagt der Nestor der Literaturwissenschaft, der bald seinen 80. Geburtstag feiert, „aber oft wird vergessen, dass es ohne Disziplinen auch keine Interdisziplinarität gibt.“ Bogdal ergänzt: „Wir müssen uns daran erinnern, dass wir eine historische Textwissenschaft sind.“

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