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Gesundheit: Mit Schachtelsätzen in die Zukunft

Geisteswissenschaftler streiten über ein neues Manifest

Die Geisteswissenschaften haben ein neues Manifest, das sie aus ihrer vermeintlichen Krise führen soll. Aber schon beim Probelauf scheiterte die hehre Absicht der Verfasser – darunter der neue Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Günter Stock, und sein Vorgänger, Dieter Simon. Schon die sperrige Kernthese des „Manifests Geisteswissenschaften“ erregte das Publikum bei der Präsentation am Freitag: „Das lebendige Wissen einer Kultur von sich selbst ist zur Stabilisierung und Entwicklung moderner Gesellschaften ebenso wichtig wie ökonomisches und technisches Können.“

Was das denn heißen solle, fragten viele im gut hundertköpfigen Publikum im Leibniz-Saal der Akademie. Das Manifest selbst verrät es nicht, und auch nicht die anwesenden Autoren. Günter Stock will mit Geisteswissenschaftlern „am Bild des Menschen von sich in der Welt und für die Welt arbeiten“. Sie sollten darüber nachdenken, „wie wir die Zukunft so gestalten, dass es Spaß macht, sie zu erleben“. Dieter Simon erklärt, Geisteswissenschaftler „sollen begreifen, sich vergewissern und aufklären“. Es gehe darum, „dass gedacht wird“.

Schwer nachvollziehbar ist aber auch die philosophische Wende, die zwei der Mitautoren, die Philosophen Carl Friedrich Gethmann und Jürgen Mittelstraß, den Geisteswissenschaften verordnen wollen. Sie treten an, den Forschungsbegriff der Geisteswissenschaften neu zu bestimmen – im Rückgriff auf Kants Beschreibung der Philosophischen Fakultät, die der Wahrheitsfindung diene, und auf Hegels Begriff des objektiven Geistes. Nicht nach soziologischen oder psychologischen Modellen solle gearbeitet werden, sondern nach philosophischen. „Die Welt wird von einem darüber schwebenden Geist analysiert und aufgeklärt?“, fragte eine Zeithistorikerin im Publikum ungläubig. Das sei ihr „zu eng“.

Zehn Thesen versprechen die Autoren. Doch statt eines geistreichen, befruchtenden Abrisses, der die Zunft von ihrer Krisenangst befreien könnte, liefern sie ein durch Schachtelsätze auf 36 Seiten aufgeblähtes Traktat.

Helfen wollen die Autoren den Geisteswissenschaften auch durch eine Reihe neu zu schaffender Institutionen. Erstaunlich: Angesichts knapper öffentlicher Kassen zeigen sie Gründergeist und sprechen sich für eine „durch Bund und Länder finanzierte größere wissenschaftliche Einrichtung nach dem Modell des Collège de France“ und für „Institutes for Advanced Study“ an zehn Universitäten aus. Das deutsche „Collège“ soll nach französischem Vorbild durch Vorträge und Diskussionen „Wissenschaft zurück in die bürgerliche Gesellschaft“ bringen, sagt Stock. Als gäbe es nicht den „Tag der Geisteswissenschaften“, an dem er sein Manifest vor einem großen Publikum diskutiert, als gäbe es nicht auch die „Akademische Causerie“, ein höchst beliebtes Event an eben jener Institution, die Stock ab dem nächsten Jahr leitet. Gleichzeitig werden Forschungsinstitute, die eng mit den Universitäten kooperieren, als gescheiterte Versuche bezeichnet. So seien mit den Geisteswissenschaftlichen Zentren „kaum lebensfähige ,interuniversitäre’ Einheiten“ gegründet worden, „deren projektförmige Befristungen sie von vornherein lähmen mussten“. Eine Wahrnehmung von außen, die nicht bestätigen kann, wer je Veranstaltungen des Zentrums für Literaturforschung oder des Zentrums Moderner Orient besuchte.

Das Manifest fordert Geisteswissenschaftler zu Entwicklungsschritten auf, die viele von ihnen längst vollzogen haben. Die Autoren kritisieren zwei Denkweisen, von denen sich die Geisteswissenschaftler ohnehin verabschiedet haben: Die jahrzehntealte Rede von den „zwei Kulturen“ – zukunftsorientierte Naturwissenschaften versus rückwärtsgewandte Geisteswissenschaften – sei falsch, mahnen Stock und seine Kollegen. Ebenso die „Kompensationstheorie“. Danach kompensieren Philologen, Philosophen und Historiker Modernisierungsschäden, die Naturwissenschaften und die Technik in der modernen Welt verursachen.

Es klingt so praktisch, wenn Dieter Simon erklärt: „Dies ist ein Aufruf an die Community, die Ärmel aufzukrempeln.“ Aber die Manifest-Autoren benennen keine neuen Forschungsparadigmen oder Themen, denen sich die Geisteswissenschaftler widmen könnten.

Bei aller Unanschaulichkeit werden allerdings auch steile Thesen formuliert. Den Historikern wirft das Manifest Historismus vor. Aktuelle Projekte wie die Migrationsforschung halten die Verfasser nicht für erwähnenswert. Sie warnen davor, dass die Geisteswissenschaften abgelöst werden durch „die Naturwissenschaften vom Menschen“ – gemeint sind offenbar die Biowissenschaften. Aber werden die Geisteswissenschaften wirklich von den Biowissenschaften überrollt?, fragte der Philosoph Volker Gerhardt und verwies auf die lebenswissenschaftliche Wende, mit der sich die Geisteswissenschaften neue riesige Forschungsgebiete erschließen. Schon mal was davon gehört?

Das Manifest im Internet:

www.bbaw.de/bbaw/Aktuell/

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