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Panorama: Jeder Gutachter stellte eine andere Prognose - das nordrhein-westfälische Justizministerium weist die Kritik am offenen Strafvollzug aber zurück

Als Dieter Zurwehme von seinem 166. Freigang nicht zurückkehrte, handelte der Häftling seinem Anstaltsleiter eine Strafanzeige ein.

Als Dieter Zurwehme von seinem 166. Freigang nicht zurückkehrte, handelte der Häftling seinem Anstaltsleiter eine Strafanzeige ein. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) zeigte die Haftanstalt Bielefeld-Senne wegen fahrlässiger Tötung an. "Es war hinlänglich bekannt, dass Zurwehme als extrem gefährlich einzustufen ist. Gleichwohl wurden ihm Haftvergünstigungen eingeräumt, die er letztlich zu seiner Flucht nutzte", sagte der stellvertetendee BDK-Bundesvorsitzende Holger Bernsee. Nur so sei es möglich gewesen, dass Zurwehme im März in Remagen am Rhein die beiden Paare umbringen konnte.

Rund ein Viertel aller Häftlinge kommen in Deutschland in den Genuss des offenen Vollzuges. Auch Dieter Zurwehme durfte vor seiner Flucht ausserhalb der Anstalt als Koch arbeiten und bekam reichlich Ausgang. Voraussetzungen für den offenen Vollzug: Die Haftstrafe ist in 16 Monaten beendet, und von den Gefangenen sind weder Flucht noch weitere Straftaten zu erwarten. Grundlage für die Prognosen liefern in den Gefängnissen die Gutachten von Psychologen.

Weil Zurwehme fast die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht hat, existieren über den 57-Jährigen auch mehrere Expertisen: 1992 empfahl beispielsweise ein Gutachter, die "gesamte Sexualproblematik" bei Zurwehme aufzuarbeiten. 1995 kam eine Medizinaldirektorin zu dem Schluss, bei Zurwehme bestehe keine "gesonderte behandlungsbedürftige Sexualproblematik". 1996 warnte dann ein Psychologe der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne, dem Häftling weitere Vollzugslockerungen zuzugestehen. In einem Gespräch mit dem Anstalts-Psychologen soll Zurwehme gesagt haben: "Wenn ich in die Enge getrieben werde und keinen Ausweg mehr sehe, vergewaltige ich wieder eine Frau." Der Psychologe hielt die Äußerung schriftlich fest. Ein Psychologe im Rang eines Oberregierungsrates am Justizvollzugsamt in Hamm befand jedoch, dass die Prognose des Bielefelder Kollegen abwegig sei und Zurwehme weitere Lockerungen zugestanden werden müssten.

Der BDK bezeichnet die Praxis im Strafvollzug als "seit Jahren anhaltenden Dauer-Skandal". Die deutsche Justiz verfahre mit gefährlichen Gewaltverbrechern immer wieder "außerordentlich großzügig", sagte Bernsee weiter. Es müsse endlich eingesehen werden, dass es Straftäter gebe, die weder resozialisierungsfähig noch resozialisierungswillig seien. Die Experten in den Justizverwaltungen halten dagegen. Seitdem vor rund 20 Jahren der offene Vollzug eingeführt wurde, sei der weitaus größte Teil aller Gefangenen, die Urlaub oder Vollzugslockerungen erhielten, pünktlich in ihre Anstalt zurückgekehrt. Tatsächlich lag 1998 in den Berliner Justizvollzugsanstalten die "Missbrauchsquote" bei den Ausgängen bei 0,21 Prozent.

Auch das nordrhein-westfälische Justizministerium hat die Kritik des BDK zurückgewiesen. Es habe verschiedenste gutachterliche Prüfungen Zurwehmes gegeben. Aufgrund dieser unterschiedlichen Gutachten und diverser Gespräche mit dem zuständigen Fachdezernenten des Justizvollzugsamts seien Zurwehmes Haftbedingungen gelockert worden. Die Behörde räumt aber ein, der Fall zeige "in bedauerlicher Weise die Grenzen fachpsychologischer Begutachtung und der daraus zu entwickelnden Eignungsprognose".

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