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Panorama: "Jetzt stillen wir unseren Hunger": Zwei auf gleichem Weg

Früher, als der Tag mit einer Schusswunde begann, um mit Wolf Wondratschek zu sprechen, der zur Zeit sein Comeback als Erzähler feiert, früher, da waren Jungautoren noch wilde Kerle. Sie trieben sich auf dem Bau, im Boxring, auf Bananendampfern herum, bevor sie erfahrungsgesättigt in die Tasten griffen.

Früher, als der Tag mit einer Schusswunde begann, um mit Wolf Wondratschek zu sprechen, der zur Zeit sein Comeback als Erzähler feiert, früher, da waren Jungautoren noch wilde Kerle. Sie trieben sich auf dem Bau, im Boxring, auf Bananendampfern herum, bevor sie erfahrungsgesättigt in die Tasten griffen. Nicht wenige von ihnen sicherten sich ihre Existenz durch Taxifahren. Der späte Debütant Christoph Bauer, Jahrgang 1957, arbeitete nach einem Studium der Informationswissenschaft und der Philosophie als Universitätsdozent in Berlin. Und eben als Taxifahrer. Von 1992 an stand er fünf Jahre lang in Diensten der Treuhand, um sich dann ganz der Kunst und dem Luxus des Romanschreibens zu widmen, wie er in einem Interview verriet. Das Ergebnis heißt "Jetzt stillen wir unseren Hunger". In seiner Verträumtheit und Verspieltheit kann ein solches Buch, das sich im Untertitel nicht "Roman", sondern anspruchsvoll "Eine Rekursion" nennt, nur das Ergebnis langer Taxifahrten und noch längerer Pausen in Erwartung des nächsten Fahrgasts sein.

Bei "Jetzt stillen wir unseren Hunger" - auf dem Umschlag begegnen sich die runden Abdrücke zweier Rotweingläser - handelt es sich um ein Liebhaberprojekt, das ausdrücklich den literarischen Säulenheiligen Anton Tschechow und Robert Walser anbefohlen ist. Vor allem Walser kann sich seiner zahlreichen Nachahmer nicht mehr erwehren, lauter Schriftsteller, denen es nachdenkliche Spaziergänger, Peripatetiker, angetan haben. Bauers Held Tom Weinreich ist täglich genau zwei lang Stunden am Kreuzberger Landwehrkanal unterwegs. Er wägt in allen Facetten einen "Metaspaziergedanken" ab, den er zuvor beim Schuhebinden festgelegt hat. Mehr oder weniger originell räsoniert er über Adolph Menzel und dessen Grabstätte oder über kirchliches Glockengeläut, dem er insgeheim den Kampf ansagt.

Weinreich, Fachmann für Personennahverkehr, ist Gelegenheitsdichter, weltkundiger Feinschmecker und im Grunde genommen - das zeigen seine schrulligen Spaziergedanken - ziemlich einsam, der Liebe entwöhnt: "Wenn man einem Menschen zu nahe kommt, zu sehr in ihn dringt und ihn erforscht, wenn man von einem Menschen, aus Liebe, wie man vielleicht denkt, Besitz ergreift, wird man früher oder später von diesem Menschen abgestoßen und zurückgewiesen, abgeschüttelt, abgestreift und am Ende verlassen. Eine Liebe aus der Ferne und in aller Stille ja, das habe ich mir noch immer erlaubt, aber eine gelebte und tatsächlich gemeinsam praktizierte Liebe habe ich schon lange für mich für unmöglich gehalten und tatsächlich ausgeschlossen." So verschroben wie warmherzig erscheint dieser Ich-Erzähler, ein ausdauernder Kirchen- und Hundehasser. Da nun aber in dieser Geschichte so manches Wunder - wie manches Klischee der Alternativkultur - wahr wird, spricht ihn Mascha, die Richtige, auch unumwunden auf Seite 40 an.

Zwar handelt es sich bei der Spaziergängerin mit ihrem "schönen sanft gewellten silbrig grau durchwirkten schwarzen Haar" (ein Beispiel für Bauers Beschreibungsseligkeit) um keine Russin, wie der selbstgewählte Name Mascha vermuten lässt, doch erinnert ihr Leben, das sie sogleich in seinen Höhen und Tiefen vor ihm, dem Seelenverwandten ausbreitet, stark an die gleichnamige Figur in Tschechows Theaterstück "Die Möwe". Liebe und Literatur vermischen sich. Filigrane Gedankenspiele lösen sich mit gemeinsamen Schimpftiraden auf die amusische, rohe Mitwelt ab, kurz: Ein Traumpaar hat sich auf Anhieb gefunden.

So einfach kann es jedoch nicht einmal in diesem Kreuzberger Märchen bleiben: Die philologisch ehrgeizige Anlage des Buches sieht vor, dass ein fiktiver Herausgeber die zehn Hefte, aus denen die "Rekursion" besteht, in Weinreichs verlassener Wohnung aufgestöbert haben will. Die Mascha gewidmeten Kladden füllte Tom, als sie nebenan im Studierzimmer schlief. Der Herausgeber, ein Schulfreund Weinreichs, äußert sich zu seiner Entdeckung in einem Epilog: "Zehn dieser Hefte, auf ihren Etiketten in römischen Ziffern durchnumeriert, waren von der ersten bis zur letzten Seite in Weinreichs säuberlicher Handschrift eng beschrieben, wenn sich auch in den letzten Heften zusehends erkennen lässt, dass die Niederschrift unter unausgesetztem Weingenuß stattgefunden haben muss. Neben dem Heftstapel lag ein aufgeschlagener Band von Robert Walser, ein Satz darin war dick angestrichen, ein Satz über das Gehen und Denken." So verlässlich ist dieses Buch: Zwischen den endlosen, wiederkäuenden Satzperioden schimmert immer wieder ehrliches Kunsthandwerk durch. Das ist die Ebene der Selbstgenügsamkeit, auf die nicht nur Robert Walsers Prosastück "Der Spaziergang" zwangsweise befördert wird.

Auf die beglückende Begegnung am Landwehrkanal folgt die Ungewissheit: Hat Mascha wirklich den Abend und die Nacht bei ihrer Zufallsbekanntschaft verbracht, die flugs zur Liebe wurde? Gibt es diese wundersame Tschechow-Heroin gar nicht, sondern ist sie nur eine Kopfgeburt des belesenen Helden? Oder sind sie Hand in Hand verschwunden, in die Literatur, in den Liebesurlaub? Christoph Bauers Roman lässt alles offen. Ein gemütlicher Roman für Gutmeinende - so originell, so kosmopolitisch wie ein Werbespot für französischen Weichkäse im deutschen Fernsehen.

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