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Die Bewohner sollten in die Häuser zurückkehren, sagten die Wissenschaftler vor dem großen Beben 2009.

© dpa

L'Aquila: Wer ist wirklich schuld?

Die Verurteilung von Erdbebenforschern in Italien stößt auf heftigen Protest. Aber wer ist wirklich schuld? Die Wissenschaftler? Der Behördenchef?

„Wagen Sie es etwa, sieben Leute ins Gefängnis zu schicken, nur weil sie ein unvorhersehbares Ereignis nicht vorhergesehen haben?“ So schleuderte es ein Verteidiger dem Richter in L’Aquila entgegen. Doch der, Marco Billi, blieb kühl. Und traute sich.

Billi wird noch mehr Standfestigkeit brauchen in der nächsten Zeit, denn sein weltweit einzigartiges Urteil – „monströs!“ „absurd!“ „verrückt!“ – hat in der globalen Wissenschaftlergemeinde und in der italienischen Politik einen Orkan der Entrüstung entfesselt. Der Richter hat es gewagt, sechs Erdbebenforscher von Weltruf und einen Spitzenfunktionär des italienischen Zivilschutzes wegen vielfacher fahrlässiger Tötung zu sechs Jahren Haft zu verurteilen. Aber warum? Nur weil sie das verheerende Erdbeben vom 6. April 2009 in der Bergregion Abruzzen nicht vorhergesehen haben? So behaupten es die Gegner des Richters. Aber so einfach ist das nicht.

Die Vorwürfe in der gut 500 Seiten starken Anklage gründen sich auf den Abend des 31. März 2009. Die Menschen in L’Aquila waren zu dieser Zeit voller Angst: Seit Weihnachten hatten ganze Schwärme von Erdstößen steigender Intensität und Häufigkeit ihre Region erschüttert. Giampaolo Giuliani, ein Atomforscher, der den Seismologen als Sonderling gilt, im aufgeregten L’Aquila aber stark beachtet wurde, hatte gar eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe prophezeit.

Da beschloss Guido Bertolaso als Chef der italienischen Zivilschutzbehörde einzuschreiten. Er trommelte seine „Kommission für Großgefahren“ in L’Aquila zusammen; Italiens führende Erdbebenforscher, die „größten Experten auf ihrem Feld“, sollten den Menschen „alle verfügbaren wissenschaftlichen Informationen zur Verfügung stellen“.

So hieß es in der offiziellen Presseerklärung. Insgeheim – aber das kam erst später bei einer Telefonabhörung hinaus – plante Bertolaso etwas anderes. Der Event, sagte er zu einer Kollegin, solle „eher was für die Massenmedien“ werden, „um jedweden Schwachkopf zum Schweigen zu bringen“, der von einem großen Erdbeben warnte, und „um alle Behauptungen und Ängste zu zerstreuen“.

Die Wissenschaftler, als sie sich sechs Tage vor dem Beben in L’Aquila trafen, hatten also eine gewisse Vorgabe. Und auch wenn sie es von ihren Kenntnissen her besser wissen mussten, schwiegen sie in der Runde zu dem, was der anwesende Vizechef des Zivilschutzes, Bernardo De Bernardinis, gegenüber den Journalisten in recht vereinfachender Weise so zusammenfasste: Erdbebenschwärme gehörten einfach zu L’Aquila; sie seien keine Vorboten großer Katastrophen; man überwache die Szene, aber die vereinigten Wissenschaftler erwarteten kein noch größeres Beben mehr. Denn: Je mehr sich die Spannungen im Boden über kleinere Stöße entlüden, umso geringer sei die Wahrscheinlichkeit für ein großes. De Bernardinis riet den Aquilanern, sich bei einem Glas Rotwein zu entspannen. Die Tendenz der Mitteilungen – das bestätigten die Zeugen einstimmig im Gerichtssaal – war für alle sonnenklar: „Der Staat hat uns mit den Stimmen seiner größten Experten beruhigt.“ In der allgemeinen Angst, so sagte ein Zeuge im Prozess, „haben wir das Wort der Wissenschaftler wie ein Manna vom Himmel erwartet“. Viele, die bis dahin aus Angst im Auto oder im Wohnmobil geschlafen hatten, kehrten voll Vertrauen in ihre Häuser zurück. 29 der 309 Opfer, so der Staatsanwalt, seien eindeutig durch diese Rückkehr zu Tode gekommen: erschlagen von Mauern und Balken, umgebracht also von jener – laut Anklage – „ungenauen, irreführenden, zum Zweck der Erhaltung von Leben ungeeigneten Information“ aus der „Kommission für Großgefahren“. Aber warum haben die Wissenschaftler ihren Mund nicht aufgemacht? Enzo Boschi beispielsweise, der vielfach gefeierte Chef des Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie, hatte 1995 in einer Studie vorhergesagt, „innerhalb von 20 Jahren“ werde es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem Großbeben in L’Aquila kommen. Beim Expertentreffen verschwieg er Risiken dieser Art, und vor Gericht sagte er nun, „Herr des Verfahrens“ sei eben die Zivilschutzbehörde gewesen: „Wenn die mich bitten, dieses oder jenes zu sagen, dann sage ich das.“ Zudem dauerte das Expertentreffen nur eine knappe Stunde; tief ins Detail gehen konnte man da nicht – und diese „hektische Oberflächlichkeit“ ist die nächste Anklage, die der Staatsanwalt gegen die Experten erhob.

Aber bei wem liegt die Hauptschuld? Das Gericht meint, dass die Wissenschaftler mit ihren Kenntnissen hinterm Berg gehalten hätten und dass die dadurch irregeführte Zivilschutzbehörde zum „Opfer“ geworden sei.

Medien und Bewohner von L’Aquila hingegen sehen in Bertolaso, dem damaligen, ebenso hemdsärmeligen wie organisationskräftigen Chef des Zivilschutzes, den Anstifter einer „politisch motivierten“ Ruhigstellung: „Kein Grund zur Besorgnis“, hatte Bertolaso immer gesagt. Er muss sich nun, nachdem das fatale Telefonat aufgetaucht ist, in einem eigenen Verfahren rechtfertigen. Auch der Prozess gegen die Wissenschaftler ist nach dem bisher nicht rechtskräftigen Urteil der ersten Instanz noch lange nicht zu Ende.

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