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Reise: Ein Wels in der Puszta

Der Theißsee bietet Wasservergnügen in Ungarns staubiger Steppe.

Flupp! Mit einem Hölzchen patscht die Frau aufs Wasser. Wenn die beiden Angler und ihre Frauen in ihrem flachen Boot Glück haben, glaubt jetzt irgendwo am Grund des Sees ein fetter Wels, dass soeben ein Frosch ins Wasser gesprungen ist oder ein Konkurrent an der Oberfläche nach Beute jagt. Der Wels beendet seine Siesta im Schlick, schwimmt nach oben und ... flupp, hat es ihn erwischt. Soweit der Wunsch der Angler.

Das Holz ist eine Art Hämmerchen, in Fachkreisen bekannt als „Wallerholz“. Den ungarischen Namen „Kutyogató“ kennen hier in der Gegend inzwischen viele. Schließlich ist es inzwischen 33 Jahre her, dass der See zu ihnen in die Puszta kam. Ursprünglich sollte er ein zweiter Balaton werden, weil das Original die Massen der Sommerurlauber aus halb Europa kaum mehr verkraften konnte. Aber dann kam die Wende, und am Theißsee blieben die Ungarn weitgehend unter sich.

Die Frau legt das Hämmerchen beiseite. Inmitten völliger Stille wartet das Quartett im Boot. Hoch oben kreist ein Adler am blauen Himmel, aus dem Dickicht des Schilfs ist ein leises Schwappen zu hören. Könnte ein Wels sein. Oder ein Purpurreiher, vielleicht auch ein Eisvogel. Die Angler machen es sich in ihrem Boot bequem. Zeit, sich zu erinnern, wie das blau-grüne Paradies in die staubige Puszta kam.

Seit jeher war die Theiß eine schwierige Nachbarin: In ihrem Oberlauf rauscht sie die ukrainischen Karpaten hinab und nimmt im Frühjahr die schmelzenden Schneemassen aus den Bergen mit. Wo sie etwa 150 Kilometer östlich von Budapest die große Ebene erreicht, verliert sie den Schwung: Auf den 600 Kilometern bis zur Mündung in Serbien bleiben ihr nur 40 Meter Gefälle. Wochenlang waren im Frühjahr bis zu zwei Drittel der Puszta überschwemmt und deshalb über Jahrhunderte nur Viehhaltung möglich, aber kaum Landwirtschaft. Wenn dann im Sommer die Sonne das Land ausdörrte, fehlte der Wassernachschub. Weil dagegen auch die seit 1850 immer weiter erhöhten Deiche wenig halfen, wurde in den 1970er Jahren der Stausee angelegt. Hirten wurden erst Deichbauer, dann Fischer – und im Winter, wenn ein Teil des Wassers in Vorbereitung auf die Frühjahrsflut abgelassen wird und das Kontinentalklima alles zu Eis erstarren lässt, Korbflechter.

Ferenc Kiss wirft den Außenbordmotor an; unsere Bugwelle lässt die Angler in ihrem Kahn schaukeln. Ferenc Kiss ist unser Kapitän und Reiseführer für diesen Tag. „Franz Klein“, übersetzt er seinen Namen, der „Ferenz Kisch“ gesprochen wird. Wir hätten das Motorboot auch ohne ihn mieten können, aber so sind wir sicherer. Denn nur in seinem südlichen Teil ist der fast 130 Quadratkilometer große See ein offenes Gewässer. Weiter nördlich umfasst er ein Gewirr aus Schilf, Inseln, Landzungen und alten Flussarmen, in dem Ausflügler einen Navigator brauchen, um nicht verloren zu gehen. Zumal unterwegs außerhalb der Hauptsaison wenige Menschen sind, die man nach dem Weg fragen könnte. Selbst im neuen Hochseilgarten auf der Robin-Hood-Insel ist dann kaum was los zwischen den Baumwipfeln.

Am Ende eines Kanals durch dichten Bruchwald öffnet sich das Wasser zum mittleren Teil des Sees und offenbart seinen Charakter: Wie eine volle Badewanne steht der See zwischen den Deichen, hinter denen sich die Dörfer mit ihren einstöckigen Bauernhäusern ducken. Doch der hohe Wasserspiegel täuscht: Überall ragen alte Baumstümpfe aus dem Wasser, manche nur wenige Zentimeter. Sofern kein Kormoran oder eine Möwe darauf sitzt, sind wir auf Ferenc’ Ortskenntnis und Intuition angewiesen. Der See sei in diesem Teil knapp zwei Meter tief, erzählt Ferenc. Im Nordteil, wo das Schilf von Jahr zu Jahr weiter vorrückt, sind die Ufer kaum noch zu erahnen: Die gestaute Theiß schüttet den See mit ihren Sedimenten regelrecht zu. Wenn nicht bald groß ausgebaggert werde, könnte die Puszta wieder ein Hochwasserproblem bekommen, sagt Ferenc. Andererseits hat sich gerade in den Schilfgebieten ein für die Kürze der Zeit kaum glaublicher Artenreichtum entwickelt. Deshalb ist das Gebiet zum Nationalpark geworden und hat es 1999 auf die Unesco-Liste des Welterbes geschafft. „Im Balaton leben 30 Fischarten“, sagt Ferenc. „Wir haben hier mehr als 50.“ Wer nicht zum Angeln kommt, kann mehr als 300 Vogelarten beobachten – am besten von den Bretterstegen und Beobachtungshütten im Schilf aus.

Für das nächste Mal empfiehlt Ferenc, zwischen dem 15. und 25. Juni wiederzukommen: zur „Theiß-Blüte“. In diesen Tagen um Mittsommer schlüpfen abends Abermilliarden Fliegen aus Eiern im See. Sie sind größer als Mücken, aber harmlos. Und: Sie können keine Nahrung aufnehmen, so dass sie nach dem Prinzip des Duracell-Hasen herumschwirren, bis ihnen die Kräfte schwinden. Im letzten Abendlicht „rieseln sie ins Wasser wie Schnee“, sagt Ferenc. Dass dieses Naturparadies ausgerechnet unter kommunistischer Herrschaft geschaffen wurde, macht den Theißsee zum Unikat.

Nach der Bootstour haben wir zwar ein Gefühl für den See, aber noch keinen Überblick. Den gewinnen wir bei einer Radtour auf dem Deich. Der Weg ist asphaltiert, der Blick über den See auf der einen und die Felder der Puszta auf der anderen Seite weit. Kaum ein Auto fährt hier. Nur für den Abstecher nach Hortobagy müssen wir eine größere Landstraße nehmen. Der Ort bildet das Herz des Nationalparks und vereint sämtliche Ungarn-Klischees. Schnauzbärtige Männer reiten stehend auf einem Fünfergespann heißblütiger Pferde, die aus Ziehbrunnen getränkt werden. Wollschweine und Wasserbüffel faulenzen in der Sonne. Ihre Gehege liegen so weit auseinander, dass man sich am besten per Kutsche chauffieren lässt. Oder man nimmt das Mountainbike und kann so den Himmel in seiner ganzen Weite sehen. Auf der schnurgeraden Horizontlinie bewegen sich Graurinder. Als die Theiß noch ungezähmt war, trieben die Hirten das Vieh lebend zu den Märkten zwischen Budapest und den Alpen. Zwölf Kilometer entsprachen etwa vier Stunden Weg. Lange her.

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