zum Hauptinhalt

Reise: Gymnastikstöcke im Dreivierteltakt

Ringelreihen im Kurpark, Solarplantagen, Adlerforscher, Burgtore: Eine Wanderung durch Deutschlands Mitte zeigt, wie kurios der Alltag sein kann.

Land des Lächelns? Bettelstudent? Csárdásfürstin? Keine Ahnung, was das Ensemble „Fokus“ da oben spielt. Hauptsache, die ältere Dame hier unten im Kurpark von Bad Salzschlirf kommt so in Stimmung, dass sie mit ihrem Regenknirps wedelnd den Takt angibt. Auch die Wellnessgruppe, die sich rechterhand unter einer gewaltigen Eichenkrone verliert, nimmt den Rhythmus auf und lässt im Dreivierteltakt ihre Gymnastikstöcke schwingen. Darauf einen Schluck aus dem Bonifaziusbrunnen, dem angeblich bekanntesten Gichtbrunnen Europas!

Ins mittelhessische Kurbad Salzschlirf gelangt man, wenn man sich aus der Hauptstadtregion zu Fuß durch die Mitte Deutschlands begibt – am Hohen Fläming entlang bis zur Elbe, durch die Magdeburger Börde und über den Harz ins Eichsfeld, an Fulda vorbei bis zum 1200-jährigen Schlitz in Richtung Vogelsbergregion.

Was für die steinalte Fachwerkstadt Schlitz das Fachwerk ist, das sind blau und gelb gestrichene Schwedenhäuser für die Waldgemeinde Borkwalde südwestlich von Potsdam. Ein sehr junger Ort sei das, sagt die Wirtin der „Siedlerstuben“ stolz, mit vielen gutsituierten Pendlerfamilien aus Berlin, die dafür sorgten, dass Kita und Schule fast überbelegt seien – der Berliner Speckgürtel hält jung.

Ortsunkundige Wanderer sollten sich hier an die Tipps der Einheimischen halten – alle Versuche, den Weg nach Brück durch den Truppenübungsplatz abzukürzen, scheitern am Wachschutz! Dutzende Radler, sagt ein älterer Mann, während er sich an den Blumenrabatten im Vorgarten nützlich macht, seien frustriert zurückgekehrt, weil sie sich irrtümlicherweise an Freizeitkarten, GPS, Google Maps und Smartphone-Apps orientiert hätten, die fälschlicherweise freie Fahrt durch den Truppenübungsplatz Lehnin signalisieren. Also den Hans-Grade-Weg entlang, der an Wohnhaus und Fabrik eines verkannten märkischen Flugzeug- und Autopioniers (1879–1946) erinnert. Die Route nach Brück knickt in den Wald vor Borkheide zum asphaltierten Radwanderweg R1 ab, der auch für Fußwanderer attraktiv ist. Fast monströs ist ein drei, vier Kilometer langer Streckenabschnitt von brusthohen Stahlstreben begrenzt, um nächtliche Autorallyes durch den Wald zu verhindern.

Bis vor Kurzem sei dies gang und gäbe gewesen, weiß kopfschüttelnd Herr Muschatz zu erzählen, und dass der Radweg von den Dörflern „Kognakstraße“ genannt werde, weil die illegalen Autorasereien meist im Vollsuff absolviert worden seien. Herr Muschatz, ein topvitaler Mittsiebziger, kennt sich aus – ehrenamtlich kümmert er sich um Sauberkeit und Sicherheit entlang der Radwanderpiste und kommt mit vorbeiradelnden Touristen gern ins Gespräch.

Später biegt sich in der Regen-Sonne-Regen-Wolken-Melange ein doppelter Regenbogen übers Land und färbt die Uferböschung an der Plane in ein so kräftiges Sattgrün, als bediente sich die Natur im Tuschkasten. Sandig ist der Flämingboden, trocken und fast ausgedörrt, selbst nach den Regentagen in den Wochen zuvor. Umso belebender, auch weil er als eines der wenigen Gewässer aus dem Hohen Fläming quillt, wirkt da der Flusslauf der blinksauberen Plane, die durch die Waldsiedlungen vor Belzig mäandert. Den industriehistorischen Kontrast dazu gibt eine Ziegelei im benachbarten Reetz, ein backsteinerner Rundbau, der überragt wird von einem leicht windschiefen Schornstein – das ganze Ensemble verwittert zwar und droht zu verfallen, aber es zeigt auch, wie sich Schönheit und Verfall ergänzen.

Umrandet von einem fast kilometerlangen, schmalen Sonnenblumenfeld reckt sich ein Dutzend grüner Biogasspeicher wie eine surreale Zeltstadt in den Horizont vor Reppinichen. Der eindrucksvolle Biogas-Park im Hohen Fläming ist der Auftakt einer regelrechten Energiewanderung in der Mitte Deutschlands – nie sah ich eine mächtigere Solarplantage als auf dem ehemaligen Rote-Armee-Flugplatz Zerbst, selten sind so viele und so hohe Windräder zu bestaunen wie jenseits der Elbe über der Magdeburger Börde; auch die Zuchtexperimente mit Miscanthus und Energieholzanbau (Pappelplantagen) zwischen Fulda und Bad Hersfeld verlaufen anscheinend erfolgreich. Ganz zu schweigen von den unvermeidlichen Maiskulturen, die mehr und mehr die Landwirtschaft dominieren und statt Viehnahrung das Futter für Verbrennungsmotoren und Steckdosen abgeben.

Vielleicht wird unsere Gier nach Energie und Sprit eines Tages dazu führen, dass in der Börde und im Thüringischen Becken wieder nach Erdöl und Erdgas gebohrt wird – das Know-how dazu könnte noch in Gommern abgerufen werden, das zuletzt das Zentrum der Erdöl-Erdgas-Industrie in Ostdeutschland war.

Die Finanzkrise hat den Wanderweg entlang der Bode erreicht

Hinter Plötzky wird das Anglerrevier Alte Elbe gequert und ein hübsches Gasthaus „Alte Fähre“ besucht – von hier aus führt ein Fuß- und Radweg über den Elbdeich nach Schönebeck. Der Weg ist aus zweierlei Gründen abwechslungsreich – einerseits wird alle 300, 400 Meter mithilfe einer hier etwas überraschenden Tafelpädagogik auf unser Planetensystem aufmerksam gemacht. Andererseits entsteht vor Schönebeck weithin sichtbar eine neue Elbbrücke als sogenannte Schrägbaubrücke in schwungvoll-eleganter Architektur.

Auf dem Areal einer volkseigenen Traktorenfabrik ist am linken Elbufer die Fahrradmanufaktur „Weltrad“ entstanden, zugleich eine Quartiergeberin für Rad- und Wandertouristen, die günstig übernachten können – in funktionalen Zimmern ohne papierne Pensionsblumen und gutbürgerliches Lametta, dafür ganz nah an der Elbe. Cool!

Je säkularer die Zeiten, desto heftiger auch in Deutschland der Zuwachs an immer neuen Pilger-, Jakobs- und Wallfahrtswegen, über die freilich wenige Pilger, Wallfahrer oder Jakobswanderer gehen. Die eher protestantische Route „Loccum–Vockerode“ kreuze ich ebenso wie einen Weg, der ab und an mit der Jakobsmuschel gekennzeichnet ist, weil im Mittelalter hier vielleicht mal jemand vorbeigepilgert sein könnte. Dies sei zuvörderst die uralte Heer- und Handelsstraße von Magdeburg nach Quedlinburg, sagt einer der beiden alten Männer in Hakeborn. Sie zeigen auf eine kaum auszumachende überwucherte Sandpiste, ab und an von Kopfsteinen durchbrochen – Zeugen einer uralten Route, über die jahrhundertelang Holz und Salz, Tuch und Getreide transportiert wurde.

Die Börde ist ein Schauinsland. Südöstlich spitzt sich ein graudunkler Kegel aus Schieferabraum in den Himmel des Mansfelder Landes. Westlich sind jenseits des Hakelwaldes die Ausläufer des Harzes auszumachen und im Norden – das könnten Konturen von Magdeburg sein. „Aus Braunschweig“, sagt der Jäger, der im klapprigen Uralt-Panda den Feldweg herunterhoppelt, „aus dem Niedersächsischen kommen Vogelforscher hierher, um Adler zu studieren.“

„Rettet die Heimat und nicht die Banken“ – die Finanzkrise hat den Wanderweg entlang der Bode erreicht, die sich durch steil abfallende Täler, von Felswänden gesäumt, durch den Ostharz stürzt. Nun sollen Schutzzäune her, um Wanderer und Erholungssuchende vor herabfallendem Geröll zu sichern. Komplette Wege sind gesperrt und zeitweise war der Zugang zur beliebten Ausflugsgaststätte Königsruhe gar verboten. Die sich zuspitzende Debatte hindert freilich die Wanderer nicht daran, in beträchtlicher Zahl zugängliche Partien des Bodewegs zwischen Thale und Treseburg zu gehen, begleitet vom steten Rauschen des Flusses, der sich über kleine Wasserfälle, sprudelnd und spritzend, seinen Weg nach Thale und Quedlinburg sucht.

Eineinhalb Wanderetappen weiter, südwestlich von Nordhausen, tippelt der Wanderer unerwartet durch eine Landschaft, die so etwas wie die Quersumme der deutschen Provinz sein könnte, das milde Bild einer sehr sanften Natur-, Kultur- und Landwirtschaftslandschaft, die man sonst nur aus Idealisierungen von Modelleisenbahnern kennt. Hier, unweit seiner geografischen Mitte, ist Deutschland eins mit sich selbst, unaufgeregt, unspektakulär, provinziell, und sehr maßvoll. Ausgerechnet vor der Ortschaft Elende, irgendwo zwischen Hainleite und Dün, wellen sich kerngrüne Weiden zu den bewaldeten Höhenlinien, durchzogen von Bachläufen mit Pappelreihen an den Ufern, so lieblich, dass der Wanderer am liebsten „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“ singen möchte, wenn er nicht dieses Kratzen im Halse hätte.

Ab und an überragt eine Kirchturmspitze das Wellental, das sich bis an den grün-blau-wolkigen Horizont erstreckt, den vor den Bleicheröder Bergen ein seltsames Hellrot unterbricht. Es kommt von einer ungewöhnlich gefärbten Kalihalde. An diesem Tag gibt sie den Hintergrund für einen Wettbewerb der Jugend- und Freiwilligenfeuerwehren rund um das thüringische Niedergebra ab, die um die Wette Zielscheiben bewässern. Das alles in Reichweite diverser Wegekreuze, Marienstatuen, Heiligensteine – willkommen im Eichsfeld, der katholischen Enklave.

Die unerwartete Katholizität des Eichsfeldes hat ebenso mit deutscher Religions- und Regionsgeschichte zu tun wie die ebenso plötzliche protestantische Kultur, die in der Vogelsbergregion bei Fulda vorherrscht. Eine „Burgenstadt“ nennt sich das Gemeinwesen Schlitz, weil sie von Burgen und Burgbauten quasi umzingelt ist: Vorderburg, Hinterburg, Hinterturm, Schachtenburg, Ottoburg, Hallenburg. Zusammen mit erhaltenen mittelalterlichen Torbauten zementieren sie den Kern einer 1200-jährigen Altstadt, die von den Fachwerkhäusern rund um den Marktplatz geprägt ist. Alle sind eher schmal und so eng aneinandergepresst, dass sich buchstäblich die Balken biegen. Unweit der Auerhahn-Brauerei sitzt sich’s vor hellrotem Fachwerk sehr gemütlich.

Das Ringelreihen könnte gut zu den Operettenouvertüren passen, die die Kurkapelle „Fokus“ im Nachbarort Salzschlirf spielt, mit dem Regenschirm dirigiert von der Rekonvaleszentin in der ersten Reihe. Keine Ahnung, was genau sie spielen. Vielleicht ist’s ja „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ aus dem Vetter von Dingsda.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false