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Reise: Hier ticken sie richtig

La Chaux-de-Fonds ist mehr als das Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie. Der Geburtsort von Le Corbusier punktet auch als Weltkulturerbe

Das Klima ist rau, der Winter hart. Es fällt viel Schnee und der bleibt in 1000 Meter Höhe auch gerne lange liegen, und türmt sich viel höher als in diesem Winter in Berlin. Doch darüber lächeln die Menschen von La Chaux-de-Fonds nur milde. Auf der Höhe des waldreichen Schweizer Juramassivs im Kanton Neuchatel unweit der Grenze zu Frankreich waren sie von Anfang an einiges gewohnt. Wer hier lebt, muss zäh sein, mit den Kapriolen der Natur klarkommen. Hugenottische Flüchtlinge aus Frankreich durften sich in der abgelegenen Gegend ansiedeln, allerdings nur oberhalb von 1000 Metern. Wegen der Unmengen an Schnee waren die Bewohner oft von der Außenwelt abgeschnitten. Sie mussten also viele Dinge selber regeln und herstellen. Das prägt.

Seit dem 18. Jahrhundert begannen die Bauern daher im Winter im Nebenjob Uhren herzustellen. Aus diesem Notbehelf entwickelte sich der Kern der Schweizer Uhrenindustrie. „Anfang des 20. Jahrhunderts kamen 90 Prozent aller Uhren aus der Schweiz, davon 60 Prozent aus unserer Stadt“, erzählt stolz Fremdenführerin Claudine Bühler. Mit ihrer offenen Art erschließt sie dem Fremden die Stadt, die auf den ersten Blick heute unscheinbar wirkt. Gleichwohl fällt die zwei Kilometer lange Hauptstraße Avenue Léopold-Robert mit einem merkwürdigen Architekturgemisch aus 19. und 20. Jahrhundert auf. Keine zentralen Plätze, keine repräsentativen Bauten, kein protziges Rathaus, das den einstigen Reichtum der Stadt zeigen könnte; denn schließlich herrscht hier „Swiss made“ vor, die Crème de la Crème der Schweizer Luxusuhren wurde und wird in dieser 40 000 Seelen großen Arbeiterstadt produziert. Aber genau das war geplant. Understatement als Prinzip einer idealen Stadt.

La Chaux-de-Fonds wirkt wie eine Auster: Der Inhalt erschließt sich dem Besucher nicht sofort, er muss sich darauf einlassen, dann entdeckt er gleich mehrere Perlen, die diese scheinbar spröde Stadt zu bieten hat, die seit 2009 zum Unesco- Weltkulturerbe gehört.

1794 brannte es lichterloh. Die Flammen hatten mit den dicht beieinander stehenden Häusern des Dorfes leichtes Spiel. Viele Uhrmacher wanderten danach aus. Die verbliebene Bevölkerung ließ sich vom Geist der französischen Revolution anstecken und rebellierte gegen die aristokratische Herrschaft im fernen Neuchatel. Die eigensinnigen La Chaux-de- Fonniers planten in einem Akt der Solidarität im Geist der Aufklärung ihre Stadt neu, schachbrettartig, längs des Tales des Doubs. Dabei achteten die Planer darauf, aus Brandschutzgründen genügend Abstand zu den Häusern zu halten, breite Straßen anzulegen, um im Winter Platz für die Schneemassen zu haben. „Die Straßen müssen trotz der Schneeberge frei bleiben, damit die Karren mit den Uhrenteilen von einer Werkstatt in die andere gebracht werden konnten. Die Uhrenherstellung hat sich ja immer mehr spezialisiert, am Ende arbeiteten 48 Zünfte an einer Uhr“, erzählt Claudine Bühler. So spiegeln sich die Bedürfnisse der wachsenden Uhrenindustrie in der Anlage der Stadt, die ihr grundlegendes Gepräge mit dem zweiten Ausbauplan von Charles-Henri Junod 1835 erhielt, die dann 1856 durch den Bebauungsplan von Charles Knab ergänzt wurde. Junod sah vor, dass die Häuser in Hanglage auch jeweils mit Gärten versehen waren, sodass sich eine Staffelung aus Straße, Haus, Garten, Straße, Haus, Garten ergab, was für ausreichend Licht im Haus für die Heimarbeit sorgte.

Die Uhren aus dem Jurastädtchen sind gefragt und bald bekommt die Stadt Schulen, Gasfabrik, Straßenbahn, Strom und Wasser. An letzteres erinnert ein gigantischer Brunnen mit Wasser speienden Schildkröten, „Nymphen waren den calvinistischen Stadtoberen zu unmoralisch“, erzählt Claudine Bühler.

Die Uhren verkauften sich in die ganze Welt, der Wohlstand der Bürger wuchs. Die Stadtverwaltung ließ auch vierstöckige Wohnhäuser für die Arbeiter errichten, von denen zahlreiche noch erhalten sind. Von außen solide Bauten, schmucklos. Aber innen! Claudine Bühler schließt eine Tür auf und zeigt stolz solch ein Treppenhaus: feinster Jugendstil, Blütenranken, farblich abgesetzt als flaches Relief. Ein Leuchter hängt an Ketten unter einer Stuckrosette. Die Treppenstufen purer Granit. „Die sind heute ein Vermögen wert“, sagt sie und weist auf die kunstvolle Verzierung der Halterung der Stufen. Es gibt nicht nur prächtigen Jugendstil zu bestaunen, sondern auch Wandmalereien, die Venedig mit der Seufzerbrücke zeigen, den Vierwaldstätter See und was sonst gerade so modern war. „Die Menschen haben sich die Bilder aus Katalogen ausgesucht und Tessiner Maler haben dann die Arbeiten ausgeführt“, erzählt sie. Auch die Balkongeländer wurden nach Katalog gekauft. Daher gibt es bei näherer Betrachtung einen bunten Stilmix im Dekor. Zeichen des Wohlstandes ist auch die prächtige Synagoge im byzantinischen Stil, Beleg einer starken jüdischen Gemeinde, die allerdings infolge der Wirtschaftskrise in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kleiner geworden ist. Die Erfindung der Quarzuhr hatte die Stadt in ihre tiefste Krise gestürzt, gleichzeitig aber auch gerettet; denn nun fehlte das Geld, um weiter die Häuser des 19. Jahrhunderts abzureißen und durch seelenlose Neubauten zu ersetzen. So konnte diese junge Stadt ihren Charakter weitgehend wahren.

Ausgerechnet ein Krematorium ist das architektonische Juwel der Stadt. Der Bau wurde 1908 bis 1909 errichtet und in den beiden folgenden Jahren von Charles L’Eplattenier mit seinen Schülern ausgestaltet. Alle Steinarbeiten, Wandmalereien und Metallarbeiten wurden von dem Direktor der Kunstgewerbeschule und seinen Schülern ausgeführt, darunter auch Charles Jeanneret, besser bekannt als Le Corbusier.

Eine weitere Perle des Städtchens sind die ersten Bauten Le Corbusiers – das schlichte Kino „Scala“, von dem nur die rückwärtige Fassade erhalten ist, sowie die beiden Villen Jaquemet und Stotzer, die beide um 1908 erbaut worden sind. In diesem schmucken Viertel in bewaldeter Hanglage findet sich auch die Villa Fallet, an der Schüler L’Eplatteniers den Tannenstil entwickelt hatten sowie das „Maison blanche“, eine weiße Villa mit Garten, die Le Corbusier für seine Eltern gebaut hat.

Betrachtet man im internationalen Uhrenmuseum die allerfeinsten Präzisionsinstrumente, ist kaum vorstellbar, dass sie im 19. Jahrhundert von groben Bauernhänden in Heimarbeit zusammengesetzt wurden. Das muss doch ein mühevoller Prozess gewesen sein, wenn einem das klitzekleine Rädchen immer wieder entgleitet. „Die Menschen hatten doch Zeit“, gibt ein Aufseher schmunzelnd die Antwort, „dann hat man eben noch einmal angefangen. Der Winter, der war immer lang.“

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