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Reise: Himmelhohe Hüllen

Pekings Architektur fasziniert bereits vorolympische Gäste – wenn nicht Staub aus der mongolischen Wüste den Blick vernebelt

Kaum ein Werbeplakat im Peking dieser vorolympischen Tage kommt ohne die Bildzutat „Vogelnest“ aus, des Emblem gewordenen Olympiastadions des Schweizer Architektenduos Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Doch das Stadion ist nicht das einzige neue Bauwerk in der chinesischen Hauptstadt, das Staunen hervor und Kritiker auf den Plan ruft.

Die gängige, bereits in Stadtplänen verewigte Bezeichnung „Bird’s Nest“ (Vogelnest) verdankt das Stadion dem tragenden Gerüst aus verschlungenen, wie geflochten wirkenden Stahlträgern, in das das Zuschaueroval quasi eingehängt ist. Die sanft zu den beiden Schmalseiten ansteigenden Ränder geben dem Bau eine angenehm organische Form. Heute, 61 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele, fehlt dem Pekinger Stadion noch der letzte Schliff. Dennoch nehmen täglich Tausende chinesischer Touristen am streng bewachten Bauzaun Aufstellung, um sich mit dem „Bird’s Nest“ im Hintergrund fotografieren zu lassen.

Merkwürdig, dass der Bau zumindest aus der Entfernung bei Weitem nicht so beeindruckend wirkt wie auf den zahllosen Abbildungen. Vermutlich lässt die Weitläufigkeit Pekings jedes Bauwerk schrumpfen. Abstand, nicht Nähe, Leere trotz Überfülle kennzeichnet die chinesische Hauptstadt. Die Überquerung einer jeden Hauptverkehrsstraße, besonders außerhalb des historischen Zentrums, gleicht einem Marsch durch die Steppe. Was dabei dem westlichen Besucher zunächst als Smog erscheint, der bereits die gegenüberliegende Straßenseite in milchiges Licht taucht, ist in Wahrheit meist der jahrtausendealte ungebetene Gast der Stadt: der beständig hereingewehte Staub aus der mongolischen Wüste.

Die Menschen besonders in Peking sind sichtlich stolz auf die Modernisierung der Stadt, die die Olympischen Spiele mit sich bringen. Doch die Beauftragung westlicher Architekten für die Renommierbauten des wirtschaftlich zur Weltmacht heranwachsenden Chinas hat im Lande auch vernehmliche Kritik hervorgerufen. Es handelt sich schließlich nicht allein um das Olympiastadion: Das Nationale Zentrum der Darstellenden Künste, im vergangenen Dezember eröffnet, stammt von dem Architekten des Pariser Flughafens Charles de Gaulle, Paul Andreu. Die Zentrale des Staatsfernsehens CCTV, noch im Rohbau, ist ein spektakulärer Entwurf des Niederländers Rem Koolhaas. Und das Nationalmuseum, das ehemalige Revolutionsmuseum unmittelbar am Platz des Himmlischen Friedens, wird hinter dem in Mao-Klassizismus ausgeführten Altbau derzeit nach Entwurf des Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan aufs Doppelte vergrößert.

Koolhaas’ Bau, der den Gesetzen der Statik zu spotten scheint, wird in Westeuropa bereits ausgiebig gefeiert. Die Fraktion der Koolhaas-Bewunderer kann sich gar nicht genug ergötzen an dem über Eck gestellten, doppelten Haken, der seine Verbindung freischwebend in 174 Meter Höhe beginnt und darüber nochmals ein Dutzend Stockwerke trägt. Hinter einem wohl an die acht Meter hohen, natürlich mit Olympia-Plakaten versehenen Bauzaun erregt die künftige Zentrale des Staatsfernsehens bei Besuchern der Stadt indessen keinerlei Aufmerksamkeit.

Ganz im Gegensatz zum neuen Performing Arts-Zentrum südwestlich vom Platz des Himmlischen Friedens. Das wie ein Ufo in einem künstlichen See gestrandete Riesenei kann tagsüber besichtigt werden, zum Eintrittspreis von immerhin 40 Yuan, also dem Vierfachen einer Bus- oder dem Doppelten einer U-Bahn- Fahrkarte. Doch das Interesse ist riesengroß. Paul Andreu hat das Prinzip seines Pariser Flughafens übernommen: eine himmelhohe Hülle, aufgrund ihrer gebogenen Form in Höhe und Ausdehnung nicht recht einzuschätzen, überspannt eine regelrechte „Stadt“. Die verschiedenen Ebenen, verbunden durch eifrig genutzte Rolltreppen, sind jedoch nicht wirklich zu einem großen Ganzen verschmolzen. Andreu schafft bestenfalls Kaufhausatmosphäre.

Dazu passen die gefälligen Mozart- Klänge, die ein Streichquartett in dem unter einem künstlichen See durchführenden Zugang verbreitet. Die eigentlichen Säle für Oper, Konzert und Theater sind konventionell, vor allem der – wiederum leicht ovale – Konzertsaal, den an der Stirnseite eine mächtige Orgel beherrscht. Ach, wenn man sich schon Anregungen in Paris holen wollte, warum nicht bei Christian de Portzamparcs bezaubernder „Cité de la musique“?

Wer die bei Touristen beliebte Antiquitätengasse Liulichang besucht, stößt auch bald auf das derzeit geheimnissvollste Bauprojekt der Stadt: den Neubau der Straße Qianmen Dajie als Nostalgiemeile. Die Straße verlängert die Nord-Süd- Achse, auf der die „Verbotene Stadt“ und damit der kaiserliche Palast als Abbild des Himmels angeordnet sind, nach Süden. Sie soll künftig unmittelbar hinter dem mächtigen Stadttor als Fußgängerzone China-Flair wie aus dem Prospekt verbreiten. Eine Straßenbahn wird fahren, erste Wagen stehen bereits zum Probebetrieb auf den Schienen, während links und rechts traditionelle Holzbauten für ebenso traditionelle wie tourismusgängige Angebote werben.

Da der vom Tian’anmen-Platz südwärts rollende Verkehr verlegt werden musste, ließ die Stadtverwaltung zwei leicht geschwungene Asphaltschneisen durch die alten Wohnviertel zu beiden Seiten der Einkaufsstraße schlagen. Die sind nun sorgsam durch sauber gefugte Mauern aus typischem, anthrazitfarbenen Backstein gegen Blicke geschützt. Der Radikalabriss nährt den Vorwurf, die traditionellen Wohnviertel der Hutongs, der rechteckigen Hofhäuser, seien dem Untergang preisgegeben. Das stimmt – und stimmt doch nicht. Zum einen besteht der größte Teil Pekings innerhalb des 2. Rings weiterhin aus solchen Wohnvierteln. Hinter den Großbauten gelegen und nur durch schmale Gassen zugänglich, finden Fremde den Weg dorthin oft nicht allein – und noch schwerer hinaus.

Zum anderen werden mittlerweile neue Hutongs errichtet. Ganz herkömmlich aus Mauerwerk und gekrönt durch wunderbar kunstvolle Dachstühle, die Zimmermänner an Ort und Stelle bauen. Doch sind das eher Luxus-Hutongs: mit Garagen anstelle der ursprünglichen Ladengeschäfte oder Werkstätten, die die ökonomische Einheit von Wohnen und Arbeiten ausdrücken. Und natürlich mit allen Sanitäranlagen, an denen es den traditionellen Wohnhöfen mangelt, wie die vielen, durch Schilder ausgewiesenen öffentlichen Toiletten erkennen lassen.

In der „angesagten“ Gegend rings um die Nördlichen Seen finden sich etliche solcher neuerbauten Hutongs; aber durchaus auch in Kleine-Leute-Quartieren, wo sie unvermittelt neben maroden Altbauten auftauchen. Abweisend wirken sie zunächst einmal alle: Denn das Leben der Familien spielt sich im Inneren ab, den Blicken der Passanten entzogen. Nur am Trommelturm, wo zahllose Rikschas auf Kundschaft warten, gehört die Besichtigung eines Hofhauses zum festen Programm. So mag sich der gängige Eindruck gebildet haben, nur noch hier gebe es Reste der alten, niedrigen, sich steppenartig weit ausdehnenden Bebauung.

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