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Am Golf von Terracina: Hier wurde Ende der 80er Gerhard Polts Film „Man spricht deutsch“ gedreht (Szenenfoto), und in dieser Gegend, zwischen Rom und Neapel, lebt der 73-Jährige mehrere Monate im Jahr.

© Imago/United Archives

Interview übers Reisen: Gerhard Polt: "Zu viel Natur würde mich bedrücken"

"In der Wiederholung liegt die Kraft, das gilt in der Musik wie beim Reisen. Wiederholung ist gut – Pause auch." Gerhard Polt reist gern langsam, schaut im Zug ständig aus dem Fenster und mag das Menscheln am italienischen Meer.

Herr Polt, der bekannte „Lonely Planet“ hat eine Liste der Top-10-Reiseziele des Jahres 2015 aufgestellt. Das sind Singapur, Namibia, Litauen, Nicaragua...
Mhm. Aha.

...Irland, Republik Kongo, Serbien, Philippinen, St. Lucia und Marokko.
Toll. Da war ich nie. Also kann ich wenig dazu sagen, und zwar gar nichts.

Keines dieser Ziele lockt Sie?
Nein. In Lettland war ich mal, mit dem Schiff ging’s nach Riga. Dann wähle ich aus dieser Liste halt Litauen, das Nachbarland. Das soll schön sein, ich hab Fotos von Vilnius gesehen mit viel Jugendstil.

Passiert Ihnen das schon mal, dass Sie Bilder sehen und wissen: Da muss ich hin!
Ich bin eigentlich immer nur übers Hörensagen irgendwo hingekommen, nie über Fotos. Wenn einer was erzählt, dann kann ich nachfragen, du, wie ist es da? Welche Schuhe brauche ich auf diesem Wanderweg? Gibt es in der schönen Natur auch ein Lokal? Weil zu viel Natur würde mich bedrücken. Das alles beantwortet mir ein Foto nicht.

Kennen Sie Fernweh?
Das ist ein Gefühl, das ist nicht habe. Ich versuche immer mit dem Ort, wo ich gerade bin, zurechtzukommen, psychisch, ökonomisch, räumlich. Da kann ich mir das nicht antun und noch andere Orte zu dem bestehenden Ort dazu addieren.

Heimweh?
Das Weh würde ich weglassen. Ich weiß aber, dass ich ein Heim habe, wo ich gerne bin, ich kenne dort die Möbel, ich kenne den Teppich und den Wandschrank und das Bad. Wenn ich, wie momentan mit Ihnen, in Terracina am Strand sitze, denke ich nicht plötzlich: Herrgott, jetzt eine Weißwurst mit Semmel in München! Dieses Gefühl ist mir nicht ein dringendes. Vielleicht wenn ich eingesperrt wäre oder müsste mich an einem scheußlichen Ort aufhalten, dann würde ich mich auch wegwünschen.

Reisefieber?
Ich habe eine sehr fürsorgliche Frau, die passt auf, dass alles dabei ist, da habe ich ein großes Vertrauen und lebe im Allgemeinen fieberfrei.

"Der Buddha sitzt da mit seiner Wampe, der sieht nicht so aus, als ob er weg will"

Die neue CD ist der Live-Mitschnitt eines Kabarett- und Musikabends von Gerhard Polt.
Die neue CD ist der Live-Mitschnitt eines Kabarett- und Musikabends von Gerhard Polt.

© Promo

Ihr Wohnort ist seit Jahrzehnten Schliersee. Voralpenland mit Bergen, Wasser, frischer Luft, Almwiesen – andere Leute machen Urlaub in dieser reizvollen Landschaft. Was treibt Sie da überhaupt weg?
Das ist ganz simpel, ich mag es gern, mich mit Leuten zu unterhalten, über ihr Leben, ihre Erfahrungen. Die gibt’s ja in Schliersee auch, das ist ja das Interessante am Menschen schlechthin. Doch wenn das noch in einer anderen Sprache geschieht, das ist wie Gymnastik, du musst dir was merken, du erfährst Begriffe, die du nie gehört hast, manche sind nicht direkt übersetzbar, du musst das vorsichtig umschreiben, dann fehlt dir ein Wort, wie heißt der Schwimmer im Klo, wenn er kaputt geht, ah, galleggiante – das ist geistige Gymnastik für mich.

Sie sprechen außer Bayerisch noch Italienisch, Schwedisch, Englisch – und vorhin haben Sie mit einer Familie aus Petersburg Russisch geredet.
Ja, schon, ja. Russisch kann ich nicht gut, ich kann’s lesen und spreche es makkaronihaft, wie die Italiener sagen. Sprache ist für mich nicht nur ein Ausdruck, der die Realität trifft, er ist ein Universum, ein Klang, eine Musik. Finnisch klingt wunderbar, aber da stehst du und verstehst halt überhaupt nix. Wenn du irgendwo hinfährst und lernst die Sprache der Menschen, da geht langsam ein Vorhang auf, du bist in einem Theater, du weißt, warum die lachen, warum die weinen. Sonst bleibt der Vorhang zu. Übrigens kann man froh sein, wenn man in seiner eigenen Sprache zurechtkommt, das ist nicht so einfach.

Ins Flugzeug steigen Sie nicht gern, wird gesagt.
Ich reiße mich nicht drum, aber ich tu’s.

Haben Sie Angst?
Das nicht. Es gibt da diesen weisen Spruch, mein Körper ist schon da, aber meine Seele ist noch nicht angekommen. Es ist für mich nach wie vor etwas Verrücktes, du steigst in London ein – und wusch! bist du in München. Ein unglaublicher Vorgang. Ich staune über diese Vielflieger: heute Indien, morgen Südafrika, ganz selbstverständlich. Das fasziniert mich. Ich halte es nur für mich nicht für attraktiv.

Sie waren doch in Moskau …
… aber mit dem Zug, ich wollte dieses Hinkommen erleben, ich habe dauernd aus dem Fenster geschaut.

Das zieht sich.
Mehr als 50 Stunden. Doch wenn du hinfliegst, dann siehst du nicht, was dazwischen ist. Es kommt sehr darauf an, wie man reist. Nehmen wir die Zeitgenossen Goethe und Gottfried Seume…

… der eine hat die „Italienische Reise“ geschrieben, der andere „Spaziergang nach Syrakus“ …
… und Goethe hat bequem in der Kutsche gesessen, der andere ist von Leipzig aus die ganz Strecke zu Fuß gegangen, das sind völlig verschiedene Annäherungen, was die gesehen, wie sie es gesehen haben. Fantastisch, wie sie es erzählen. Der eine, Seume, gerät in Situationen, die der andere gar nicht mal ahnt, es wird ihm sein Tornister ausgeplündert, an der Grenze behandeln sie ihn schlecht, Goethe wird durchgewinkt und bekommt womöglich eine Eskorte. Es ist heute noch wichtig, wie und als wer du reist.

Wenn Sie die Wahl haben?
Mir gefällt die Bahn, sie ist als Verkehrsmittel glänzend, weil sie das Unvorhergesehene bringt. Wildfremde Leute erzählen dir ihr ganzes Leben in einer Stunde, den Aufenthalt im Krankenhaus, wie ihr Arzt so ist.

Der Schriftsteller Sten Nadolny sagt es so: „Dieser Rhythmus der Gleisfugen, dieses Ta-tack, Ta-tack… Und wie sich die Stromleitungen immer wieder senken zwischen den Masten und heben: ein Tanz in der Senkrechten.“
Diese Form des Bildhaften ist ein Geschenk, deshalb schaue auch ich aus dem Fenster. Es macht mich traurig, und ich nehme das Wort traurig ganz bewusst, wenn ich im Zug die Leute mit Ohrstöpseln sehe, noch einen Fernseher vor sich, statt sich die Weite anzuschauen, Wälder, Gebäude, Kühe, Bahnhöfe. Kinder sitzen so verstöpselt da, damit die Eltern ihre Ruhe haben. Den Kindern wird etwas vorenthalten. Sie tauschen diese wunderbare Welt gegen ein digitalisiertes Dings.

Wie Sie Auto fahren, hat der Musiker Christoph Well, mit dem Sie oft auftreten, so beschrieben: „Der Gerhard hat schon mal eine Schnecke überholt, aber allzu oft gelingt ihm das nicht.“
Mir wird nachgesagt, ich sei ein großer Stauverursacher. Wahr ist, ich fahre gemäßigt und mit dem Grundwissen, ich bin im Auto in jedem Fall viel schneller als zu Fuß.

Punkte in Flensburg haben Sie nicht?
Im Gegenteil. Ich bin zwei Mal von der Polizei angehalten worden, weil ich langsam fuhr. Die dachten, ich wäre betrunken. War ich gar nicht. Sie sagten, zu langsam sei auffälliger als zu schnell.

Das Reisen wird sehr unterschiedlich betrachtet. Goethe: „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.“ Dagegen Laotse: „Der Weise versteht die Welt, ohne zu reisen.“ Wer hat recht?
Beide. Sokrates und andere der Klassiker waren keine großen Reisenden, Immanuel Kant soll sein Königsberg kaum verlassen haben. Diese Leute sind halt in der Welt des Wissens und Denkens gereist. Und dann gibt es Marco Polo und Alexander von Humboldt, die als Abenteurer unterwegs waren.

Wenn Sie einen dieser beiden hätten begleiten können oder Ihren Zeitgenossen Bruce Chatwin, der „In Patagonien“ schrieb, wen würden Sie wählen?
Ich weiß ja nicht, wer ich damals gewesen wäre, verstehn’S? Mit einem eitrigen Zahn hätt' ich den Marco Polo nicht begleiten wollen, ich weiß den Vorzug des heutigen Reisens mit Tabletten durchaus zu schätzen. Ja, das Reisen, da fällt mir was ein… Es gibt den Handelsreisenden nicht mehr, den Vertreter, der Staubsauger verkauft, der gezwungen ist unterwegs zu sein, um zu verkaufen. Dafür gibt es mehr Menschen, die aus Not reisen, wobei das eher Fluchten sind, der Ausdruck Flüchtling ist da angebrachter. Und es gibt Leute, die vor sich selbst wegwollen und deshalb reisen, die immer in Bewegung und woanders sein müssen. Stichwort Ubiquität. Das Gegending ist der Buddha. Wie der da sitzt mit seiner Wampe, der sieht nicht so aus, als ob er weg will. Der braucht das nicht.

"Wer macht, was ich mache, braucht keinen Urlaub"

Am Golf von Terracina: Hier wurde Ende der 80er Gerhard Polts Film „Man spricht deutsch“ gedreht (Szenenfoto), und in dieser Gegend, zwischen Rom und Neapel, lebt der 73-Jährige mehrere Monate im Jahr.
Am Golf von Terracina: Hier wurde Ende der 80er Gerhard Polts Film „Man spricht deutsch“ gedreht (Szenenfoto), und in dieser Gegend, zwischen Rom und Neapel, lebt der 73-Jährige mehrere Monate im Jahr.

© Imago/United Archives

Sie haben als junger Mann fünf Jahre in Schweden gelebt, seit Jahrzehnten zieht es Sie nach Italien, da kommen gut acht Jahre in diesem Land zusammen. In Terracina, wo Ihr Film „Man spricht deutsh“ entstand, haben Sie schon lange ein Haus…

…aber das hat mit dem Film nix zu tun. Es gibt auf der tyrrhenischen Seite Italiens viele Buchten, den Golf von Neapel, den von Gaeta, und der von Terracina blickt genau nach Süden, da ist die Schattensituation günstiger und macht das Drehen billiger. Zu dem Haus sind wir durch Freunde gekommen.

Wenn man Sie beobachtet, Sie grüßen in Terracina jeden, reden mit allen. Ist das für Sie überhaupt Urlaub?
Es ist Leben. Den Begriff Urlaub kann ich für mich nicht in Anspruch nehmen, der gehört Leuten, die in der Zwangsjacke ihres Terminkalenders stecken, um sieben Uhr antreten müssen… Wer macht, was ich mache, braucht keinen Urlaub.

Sie finden es einfach gut hier?
Schauen’S doch mal aufs Meer, diese Weite, da hinten liegt Ischia, dort sind die Ponza-Inseln. Heute sind sie nur schemenhaft zu sehen, nebulös wegen der Feuchtigkeit, dann tauchen sie wieder ganz klar auf. Ich schwimme jeden Morgen mit meiner Frau, zwei Stunden oder länger, das Wasser trägt so angenehm.

Zwei dieser blauen Sonnenschirme und vier Liegen hat Ihre Frau fürs ganze Jahr am Lido gemietet.
Das ist mehr für Freunde und Gäste, ich sitze gern ein paar Schritte dahinter in diesem Lokal. Ich nenn’ es teatrino, kleines Theater. Die Gäste sind zu 99 Prozent Italiener und damit große Erzähler. Der eine hat Kopfweh, ein Kind ist in einen Splitter getreten, der Hund ist verschwunden, dort drüben sitzt oft einer und liest „Corriere della Sera“, dann geht es um die Schweinereien der Politik, die Kaffeemaschine zischt. Es gibt, hören Sie’s!, keine Musik, die das Rauschen des Meeres kaschiert, das ist selten. Vergangenes Jahr haben’s in der Nähe einen Mafioso durchsiebt, großes Thema. Den ganzen Tag kommen Leute am Strand vorbei wie die Frau da mit ihren bunten Tüchern, bis zum Abend ist ein ganzes Kaufhaus vorbeigezogen, es wird gefeilscht, es lebt und menschelt vor sich hin. Und ich höre, schaue zu, mische mich mal ein. Woche für Woche, es ist immer was los.

Langeweile kommt da nicht auf?
Langeweile ist mir als Empfindung so fremd wie Hunger. Ich habe höchstens Appetit.

Wenn es so schön ist, fotografieren Sie viel?
Nein. Ich merk’s mir und erzähl’s lieber. Als unser Kind klein war, bin ich oft gefragt worden, ob ich ein Foto vom Bub’n hab. Nein, aber ich kann ihn beschreiben, wie er aussieht, wie er redet … Die Leute haben meistens darauf verzichtet.

Nun haben Sie eine CD gemacht mit Geschichten vom Reisen, begleitet von einem neapolitanischen Trio. Der Titel ist „Da fahrma nimmer hin“. Wo würden Sie denn nicht mehr hinfahren?
Also, in der G’schichtn sagt eine Frau: „Wir haben da jetzt so eine Weltreise unternommen. Aber da sag ich gleich, wie es ist: Da fahrma nimmer hin.“ Und ich? New York. Ich hab diese hohen Häuser gesehen, ich bin mit dem Lift da raufgefahren…

Aufs Empire State Building?

… ja, ich hab’ heruntergeschaut. Es hat mich nicht angeheimelt. Da müsst ich nicht mehr hin. Bei Wien, Berlin, Moskau, bei Budapest oder Rom, da geht es mir anders.

Sie schildern auf der CD jemanden, der in seinen Geldbeutel einen GPS-Sender baut, für den Fall eines Diebstahls. Mal ehrlich, das haben Sie erfunden.
Nein. Ein Mann hat mir erzählt, wenn ihm seine Börse geklaut wird, es beruhigt ihn, dass er sie verfolgen kann und weiß, wo sie ist. Sie lebt ja weiter, es bezahlt halt nur ein anderer damit. Aber überlebt die Geldbörse, wenn ihr Inhalt weg ist? Vielleicht, wenn sie schön ist.

Gibt es denn einen Ort, der Sie noch reizen würde?
Man kann nicht alles sehen und muss auch nicht alles sehen, man muss sich begnügen. Dafür kann ich andere Dinge vertiefen. In der Wiederholung liegt die Kraft, das kennen wir alle von der Musik, und in der Pause. Das ist beim Leben und Reisen nicht anders. Wiederholung ist gut – und Pause auch.

Gerhard Polt: & Trio Converso: Da fahrma nimmer hin. Geschichten vom Reisen. Verlag Kein & Aber, 2015, 2 CDs, 19,90 Euro

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