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Kusnezow

© Christian Weisflog

Russlands Armee: Sklave des Vaterlands

Sein Wehrdienst sollte zwei Jahre dauern. Eigentlich. Doch dann wurde Anton Kusnezow als Arbeitskraft an eine Ziegelfabrik verkauft. Lohn gab es nicht, dafür Schläge. Als er nach fünf Jahren endlich fliehen konnte, warf Russlands Armee ihm Fahnenflucht vor.

Aus seinem Blick spricht Ohnmacht. Anton Kusnezow, 23 Jahre alt, sitzt auf einem Hocker in der Küche seiner Großmutter, er lässt die Schultern hängen, in seinen schwarzen, kurzgeschorenen Haaren zeichnet sich erstes Grau ab. Es riecht nach Kaffee und alten Kleidern, die Kacheln sind hellblau, die Tapeten vergilbt. Durch das Küchenfenster sind marode Wohnblöcke zu erkennen, an manchen Stellen sammelt sich Müll, es ist das typische Bild einer russischen Industriestadt. Antons Heimatort heißt Lipezk, er liegt etwa 400 Kilometer südöstlich von Moskau.

Hier hat sie begonnen, jene fünfjährige, qualvolle Odyssee, die für Anton noch immer kein Ende gefunden hat. „Noch bin ich Angehöriger der Armee, kein Bürger“, sagt Anton. „Ich bin rechtlos.“ Und manchmal, fügt er hinzu, wäre er lieber tot.

Begonnen hat alles im Herbst 2003. Anton hatte gerade seinen 18. Geburtstag gefeiert, als ihn die Armee für zwei Jahre zum Wehrdienst einzog. Nach der viermonatigen Grundausbildung wurde er nach Dagestan abkommandiert, in eine kaukasische Nachbarrepublik Tschetscheniens, rund 1200 Kilometer südlich von Lipezk gelegen. Anton landete in einer Region, in der kriminelle und islamistische Gruppierungen fast täglich Terroranschläge verüben. Es war die erste Regelverletzung von vielen, denn eigentlich hätte Anton das Recht gehabt, den Wehrdienst in der Nähe seiner Heimat abzuleisten. Er ist Waise, seine Eltern starben früh, der Vater an Alkoholsucht, die Mutter an den Schlägen ihres zweiten Mannes. Das Sorgerecht für Anton ging an die Großmutter über.

Wenige Tage nach seiner Ankunft in der dagestanischen Kaserne wiesen ihn zwei Unteroffiziere an, seine Sachen zu packen. Erklärungen gab es nicht. Aus Respekt und Angst vor Schikanen fragte Anton nicht nach. „Ein Befehl ist zuerst auszuführen und dann zu diskutieren“, erinnert er sich. So hatte man es ihm beigebracht.

Man verlud ihn in einen Geländewagen, Anton wusste nicht, wohin er fuhr. Die dagestanische Hauptstadt Machatschkala war seit Stunden hinter dem Horizont verschwunden, als Anton inmitten einer steinigen Steppenlandschaft die mächtigen Gasöfen und Förderanlagen einer Ziegelei erkannte. „Das ist dein neuer Dienstort“, sagten die Unteroffiziere. Anton akzeptierte auch diesen Befehl. Er ahnte nicht, was ihn erwartete.

Anfangs bestand die Arbeit des 18-Jährigen darin, rohe Lehmziegel vom Förderband zu nehmen, die mit Traktoren zu den Brennöfen transportiert wurden. Auch dort wurde Anton später eingesetzt: Jeweils zwei Tage dauerte es, bis die 60 Brennkammern eines Ofens mit jeweils 1200 Ziegeln vollgestapelt waren, nach 24 Stunden konnten sie entnommen werden. Waren sie zu kurz oder zu lange im Ofen gewesen, konnten sie brechen. Manchmal lösten sich dann heiße Ziegel aus den Stapeln und fielen den Arbeitern auf Beine und Füße.

Die dagestanischen Aufpasser in der Fabrik bestraften solche Missgeschicke erbarmungslos: „Bei den kleinsten Fehlern setzte es sofort Hiebe“, erzählt Anton. „Wer den Mund aufmachte, wurde noch härter traktiert.“ Die Aufpasser wussten, wie sie Schmerzen verursachen konnten, ohne die Arbeitsfähigkeit ihrer Opfer zu beeinträchtigen: „Sie schlugen mit ihren Stöcken nicht auf die Knochen, sondern auf die Organe, vor allem auf Leber und Nieren“, sagt Anton.

Wie Vieh seien sie gehalten worden. Es gab nur zwei Mahlzeiten am Tag, zum Frühstück Brei, zum Abendessen eine wässrige Suppe. Wenn Anton und seine Leidensgenossen die Tagesnorm von 3000 Ziegeln nicht erfüllten, wurden sie mit Schlägen und Essensentzug bestraft. Um zehn Uhr abends sperrte man sie in Bauwagen, um sechs Uhr morgens trieb man sie wieder zur Arbeit. „Wir schliefen auf Heu, das mit alten Kleidern überdeckt war“, erinnert sich Anton. „Als Toilette diente ein Eimer.“ Im Sommer mussten sie zusammengekauert im Sitzen schlafen, um Füße, Hände und Gesicht vor Mücken zu schützen.

Gemeinsam mit Anton lebten etwa 15 bis 20 weitere Arbeiter unter diesen Bedingungen, die meisten Zivilisten, auch sie erhielten keinen Lohn. Mit falschen Versprechungen hatte man sie in die Fabrik gelockt und festgehalten. Sie waren Sklaven. Und Anton war einer von ihnen. Man hatte ihn an die Fabrik verschachert, es war ein Tauschgeschäft: Im Gegenzug erhielt die Armee Baumaterialien. Aber das sollte erst Jahre später ans Licht kommen.

Anton brauchte einige Wochen, um sich davon zu überzeugen, dass sein Einsatz in der Fabrik mit Wehrdienst nichts zu tun haben konnte. Er begann Widerstand zu leisten. Den Soldaten, die in der Fabrik Ziegel abholten, gab er zwei Briefe an seine Großmutter mit. Er erzählte ihr von den Schlägen, den Schmerzen. Er bat um Hilfe.

Die Großmutter hatte ihren Enkel bereits aus dem Waisenhaus geholt, nachdem seine Eltern gestorben waren, allein hatte sie Anton aufgezogen. Nun fuhr die 80-Jährige nach Dagestan, es war im September 2004. Kurz bevor sie eintraf, holten die Militärs ihren Enkel jedoch zurück in die Truppenunterkunft und putzten ihn notdürftig heraus. Die blauen Flecken auf Antons Körper aber ließen sich nicht vertuschen. Schockiert stellte Antonina Kusnezowa den stellvertretenden Kommandanten Nikolai Chorew zur Rede. Der antwortete nur: „Wir setzen unsere Soldaten ein, wo wir wollen.“

Antonina Kusnezowa reiste ab, in der vagen Hoffnung, dass man ihren Enkel in Zukunft schonen würde. Tatsächlich ließ man ihn zunächst Büroarbeit verrichten. Nach einem Monat aber wurde Anton erneut abkommandiert, in eine andere Ziegelfabrik. Wieder sah er keine Möglichkeit, sich zu wehren. Er hoffte allein, das verbleibende Jahr seiner Dienstzeit, die im November 2005 enden sollte, möge schnell vergehen.

Doch die Frist verstrich, ohne dass Anton aus dem Dienst entlassen worden wäre. Man ließ ihn einfach weiterarbeiten. Drei Jahre dauerte dieses Martyrium an, in acht verschiedenen Ziegeleien wurde Anton eingesetzt. Er kann sich nicht mehr genau erinnern, wann er die zerfetzte Uniform gegen zivile Arbeitskleidung eintauschte. Nicht einmal mehr dem äußeren Anschein nach war er nun ein Wehrdienstleistender – er war endgültig zum Sklaven geworden. Auch kamen keine Soldaten mehr in den Fabriken vorbei, um Ziegel abzuholen. Der Kontakt zur Außenwelt brach gänzlich ab.

Anton begriff, dass nur eine Flucht ihn retten konnte. Dreimal versuchte er vergeblich zu entkommen, jedes Mal wurde er erwischt, jedes Mal richteten ihn die Aufpasser übel zu. Erst im vergangenen Februar, über fünf Jahre nach seinem Einzug in die Armee, gelang Anton gemeinsam mit einem Dagestaner namens Said die Flucht. Sie befreiten sich nachts aus einem maroden Bauwagen und gelangten zu Fuß bis in Saids Heimatstadt nahe der tschetschenischen Grenze. Said gab Anton neue Kleider, und bevor sie sich verabschiedeten, steckte er ihm 300 Rubel für die Reise zu, knapp zehn Euro. Ohne Papiere schlug sich Anton innerhalb eines Monats zu Fuß und per Anhalter aus dem Kaukasus bis nach Lipezk durch.

Vermeintlich in der Freiheit angekommen, meldete er sich im März bei der Militärstaatsanwaltschaft. Doch die stellte ihn sofort unter Arrest. Um seinen Einsatz in den Ziegeleien zu vertuschen, hatten Antons Vorgesetzte ihn fünf Monate vor Ablauf seiner Dienstzeit als vermisst gemeldet. Im Juni 2005 hatte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren eröffnet – wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe. Deshalb könnte Anton nun nach der Sklaverei eine Gefängnisstrafe von fünf bis sieben Jahren drohen, wegen Fahnenflucht. Schlimmstenfalls könnte er außerdem gezwungen werden, die theoretisch verbleibenden fünf Monate seiner Dienstzeit nachträglich in Dagestan abzuleisten.

„Gut möglich, dass sie mich dann aus dem Weg schaffen, dass sie mich erschießen oder aus dem Zug werfen“, sagt Anton. Immer wieder kommen ihm solche Gedanken. Auch jetzt, wo er in der Küche seiner Großmutter sitzt.

Antonina Kusnezowa läuft derweil zwischen Kühlschrank und Küchentisch hin und her, sie richtet Wurst und Brot an. Immer wieder wischt sich die alte Frau mit den rot gefärbten Haaren die Tränen aus dem Gesicht. Die Rentnerin hat ihrem Staat ein Leben lang treu gedient, sie war Ingenieurin, im Weltkrieg arbeitete sie in der Rüstungsindustrie, danach im Lipezker Metallurgiewerk. Wie dieser Staat nun mit ihrem Enkel umspringt, kann Antonina Kusnezowa nicht begreifen. Sie hat Briefe geschrieben, wütende, verzweifelte, an einen General, an den Verteidigungsminister. „Wo bleibt die Antwort?“, klagt sie.

Es ist ein mühseliger Kampf mit nur wenigen Lichtblicken. Obwohl weiter gegen Anton ermittelt wird, darf er inzwischen wenigstens wieder bei der Großmutter leben. Anfang Juli konnte er die Lipezker Kaserne verlassen, nachdem er der Militärstaatsanwaltschaft mit Selbstmord gedroht hatte. Seine Großmutter wäre bereit gewesen, sich an diesem Tag vor den Wagen zu werfen, der ihren Enkel von der Untersuchungsbehörde zurück in die Kaserne bringen sollte.

Einiges hat das Ermittlungsverfahren inzwischen ans Licht gebracht, vieles aber liegt weiter im Dunkeln. Nachdem das Fernsehen über den Fall des „Sklaven Kusnezow“ berichtet hatte, reiste Antons mittlerweile pensionierter Vizekommandant Nikolai Chorew nach Lipezk – jener Mann, den die Großmutter Jahre zuvor wegen der blauen Flecken an Antons Körper zur Rede gestellt hatte. Er suchte das Gespräch mit den Ermittlern und traf sich anschließend auch mit Anton und dessen Anwalt. Während er den Vorwurf des Menschenhandels von sich wies, räumte Chorew ein, dass die Kaserne Soldaten an Ziegelfabriken abkommandiert und im Gegenzug Baumaterialien erhalten hatte. Auch die Staatsanwaltschaft in Dagestan ist inzwischen aktiv geworden: Bei Durchsuchungen in mehreren Ziegeleien entdeckte man Mitte Juli mehr als 100 versklavte Arbeiter. Die Fabrikbesitzer wurden zu Geldstrafen verurteilt.

Anton aber muss nun nachweisen, dass auch er zu den Sklaven von Dagestan gehört hat. Unklar ist zudem, wer genau ihn an die Fabrik verkauft hat. Antons Anwalt vermutet, dass es der Truppenkommandant war. Doch der wurde inzwischen erschossen.

Neben seinem Anwalt zählt Anton nun vor allem auf die Hilfe von Elena Mochotajewa. Die 44-Jährige gehört dem „Komitee der Soldatenmütter“ an, einer russischen Nichtregierungsorganisation, die sich für Armeeangehörige einsetzt. Mochotajewa engagiert sich für die Organisation, seit man vor einigen Jahren ihren psychisch kranken Neffen zum Dienst einziehen wollte. Solche Fälle gebe es häufig, sagt die Arzthelferin. Weil sich gesunde junge Männer aus wohlhabenden Familien meist mit Bestechungsgeldern vom Armeedienst freikauften, ziehe man Jugendliche ein, die eigentlich dienstuntauglich seien, um die Rekrutenquote zu erfüllen. Vor allem mit Waisenkindern wie Anton werde rücksichtslos umgesprungen, sagt Mochotajewa: „Denn niemand setzt sich für sie ein oder sucht nach ihnen.“

Anton glaubt kaum noch daran, dass die Staatsanwaltschaft die Verantwortlichen findet und bestraft. „Sie werden sich ihre Uniformen nicht beschmutzen lassen“, sagt er. Verzweifelt streicht er sich über den kurz geschorenen Schädel. „Wann hört das alles endlich auf?“, fragt er. „Ich sehe, wie junge Männer einberufen und wieder entlassen werden. Wann bin ich endlich an der Reihe?“

Christian Weisflog[Lipezk]

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