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Lemn Sissay, 51, lebt seit 15 Jahren in London. Seine Autobiografie erscheint im Sommer 2019 in England.

© Hamish Brown

Interview mit Lemn Sissay: „Mom and Dad – kein Geschenk reicht da ran“

Lieblose Präsente, Leute, die fürs Feiern bezahlt werden: Weihnachten im Kinderheim ist oft traurig. Der britische Lyriker Lemn Sissay hat es selbst so erlebt. Und veranstaltet deshalb Christmas Dinners im ganzen Land.

Mr. Sissay, Sie haben eine große Familie, vier Halbschwestern, drei Halbbrüder. Treffen Sie sich alle an den Feiertagen?

Sie leben auf der ganzen Welt verstreut, wir haben keinen Kontakt. Mit meiner Mutter, sie wohnt heute in New York, telefoniere ich zwei Mal im Jahr.

1967 kam sie aus Äthiopien zum Studieren nach England, stellte dort fest, dass sie schwanger war, und wollte Sie nur so lange in Pflege lassen, bis sie fertig war. Stattdessen gab der Sozialarbeiter Ihnen einen neuen Namen, nämlich seinen – Norman – und sagte der Pflegefamilie, sie könnte Sie behalten.

Ich wurde meiner Mutter gestohlen, meiner Identität und Familie beraubt. Erst als ich mit 18 aus dem System entlassen wurde, bekam ich meine Geburtsurkunde, auf der Lemn Sissay stand, und einen Brief meiner Mutter, in dem sie darum flehte, mich zurückzubekommen.

Sie haben Ihre Lebensgeschichte und das Los von Pflegekindern immer wieder zum Thema gemacht, in Gedichten und einem Drama, in Fernsehdokumentationen und Radiosendungen, Sie arrangieren opulente Weihnachtsfeste für junge Leute, die im Heim waren. Jahrelang haben Sie nach Ihrer leiblichen Familie gesucht. Als Sie sie endlich gefunden hatten, wurden Sie da nicht mit offenen Armen empfangen?

Man kann nicht einfach als Erwachsener irgendwo reinplatzen und sagen, hey, ab heute bin ich der älteste Bruder, es gibt Dinge über eure Mutter, von denen ihr keine Ahnung habt. Ich habe zu viel von ihnen verlangt: Sie wussten nichts von meiner Existenz. Und meine Mutter – als ich das erste Mal vor ihr stand, kurz vor Weihnachten, war ich kein kleiner Junge, sondern Anfang 20. So alt wie mein Vater, mit dem sie nie richtig zusammen war, zur Zeit meiner Zeugung.

In Ihrem Drama „Something Dark“ haben Sie einige Worte geschwärzt, als es um deren Umstände geht.

Ich kann Ihnen nicht sagen, was für verheerende Folgen diese Stelle hatte. Ich hatte die Regeln von Familie nicht verstanden, wusste nicht, dass es da ebenso sehr um das geht, was man nicht sagt, dass Geheimnisse Familien auch zusammenhalten. Ich dachte, man erzählt einfach seine Wahrheit. Für meine Geschwister war ich wie eine Explosion. Jetzt vermittle ich meine Geschichte auf der Bühne.

Sie haben sogar das Gutachten eines Psychologen über Sie von einer Schauspielerin im Londoner Royal Court Theatre vortragen lassen. Sie saßen mit auf der Bühne und hörten den Bericht, genau wie die Zuschauer, zum ersten Mal. Das klingt ziemlich exhibitionistisch.

Die Bühne ist für mich ein sicherer Ort. Allein zu Hause hätte ich den Report nicht lesen können. Vom Publikum kam mir so viel Sympathie und Wärme entgegen. Der Abend, und es gab nur diesen einen, hatte alles, was gutes Theater haben sollte: Er hat Menschen bewegt, hatte Tiefe. – Es tut mir leid, es fällt mir gerade sehr schwer, zu reden. Ich arbeite an meiner Autobiografie, für die ich meine Akten angucken musste, alles, was über mich als Kind geschrieben wurde. Das bringt mich total durcheinander. Alle drei Monate wurde ein Bericht über mich verfasst. Alle drei Monate!

Was stand da drin?

Die ganzen Urteile, die nonstop über mich gefällt wurden. An der Grundschule haben mich andere Kinder Nigger genannt, mein Spitzname lautete „Kreidebleich“. Ab und zu kam ich dann mit einem blauen Auge nach Hause. In dem Bericht steht nicht, wie schlimm das war, was die anderen getan haben. Es hieß nur: Norman ist aggressiv, wenn es um seine Hautfarbe geht.

Was hat Sie besonders schockiert?

Dass meine Pflegeeltern mich offenbar als Bedrohung ihrer eigenen Kinder gesehen haben. Mir wurde die Schuld dafür gegeben, dass mein Bruder Christopher introvertiert war. Ich war ein fröhlicher Junge, habe alle angestrahlt, und die Leute lächelten zurück – meine Eltern hatten das Gefühl, dass ich ihren leiblichen Sohn in den Schatten stelle. Dabei war ich einfach nur ich selbst.

Ihre Eltern, sehr fromme Baptisten, schickten Sie mit Beginn der Pubertät ins Heim. Der Teufel stecke in Ihnen, sie wollten Sie nie wiedersehen.

Sie haben die Verbindung wie mit der Guillotine abgeschnitten. Ich hatte Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel, Großeltern, der schottische Opa war ganz vernarrt in mich. Alles – und von einem Tag auf den anderen nichts. Ich war zwölf und habe lange gebraucht, um zu kapieren, dass sie sich nie wieder melden würden. Das war wie Verrat in Zeitlupe. Sie waren doch meine Mom and Dad! Ich nehme an, dass sie den anderen den Kontakt zu mir verboten haben. Am deutlichsten wird mir das, was sie mir angetan haben, immer in der Weihnachtszeit, wenn Familien zusammenkommen.

2013 haben Sie in Manchester die erste Weihnachtsfeier für ehemalige Pflegekinder zwischen 18 und 25 initiiert. In diesem Jahr wird es 17 solcher Christmas Dinners im ganzen Land geben. Geschenke spielen dabei eine zentrale Rolle.

Ich weiß noch, wie lieblos die Präsente im Kinderheim wirkten. Einmal habe ich einen Radiowecker bekommen, aber ohne die nötigen Batterien, ich konnte ihn gar nicht benutzen. Und die Mitarbeiter waren dort, weil sie dafür bezahlt wurden, nicht, weil sie da sein wollten.

Wie vermeiden Sie, dass so ein Christmas Dinner zur reinen Mitleidsaktion wird?

Zum Beispiel, indem in jedem Festkomitee Künstler vertreten sind. Extrem wichtig ist, dass das Ganze nichts Institutionelles hat. Dass die Ehrenamtlichen keine Schilder tragen, auf den Toiletten richtige Handtücher liegen, ganz genau gecheckt wird, ob die Namen auf den Geschenkanhängern richtig geschrieben sind. Es kommt auf die Details an. Das Schöne am Weihnachtsdinner ist, dass es keine Erwartungen an die Gäste gibt, etwa dass sie zu Vorbildern werden. Sie sollen es sich einfach gut gehen lassen.

Und Sie sind der Strippenzieher?

Nein, es gibt keine Zentrale, keinen Boss, ich bin nur der PR-Mann.

Naja, mit Ihrer Stiftung geben Sie jedem Komitee eine Grundfinanzierung.

Fast alles wird gespendet, die Arbeit und Zeit der Freiwilligen, Geld, das Festessen, Präsente, Gutscheine. Und zwar von Menschen und Firmen vor Ort. Die Kids bekommen das Gefühl, dass die Community sich um sie kümmert, sie schätzt. Und durch das ganze Fundraising wird auf die Pflegekinder aufmerksam gemacht. Die sind ja unsichtbar, wenn sie im Heim leben.

„Die meisten schauen auf Pflegekinder herab“

Mit zwölf schickten seine Pflegeeltern Sissay ins Heim. Bis heute leidet er unter Depressionen.
Mit zwölf schickten seine Pflegeeltern Sissay ins Heim. Bis heute leidet er unter Depressionen.

© Hamish Brown

Ein einziger Tag kann ein verkorkstes Leben nicht ändern.

Es ist wichtig, dass wir keine falschen Hoffnungen wecken. Wir bereiten ihnen einfach einen großartigen Tag in Gesellschaft, schenken ihnen Zuwendung und Aufmerksamkeit. Manchmal kommen Friseure, um ihnen die Haare zu machen, ein Taxi holt sie ab und bringt sie wieder nach Hause.

Wieso das?

Sie sollen das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sein. Einige saßen noch nie in einem Taxi, außer vielleicht, um wieder von einem Heim ins andere gebracht zu werden. Zuweilen gehen sie nicht an die Tür, wenn der Fahrer klingelt, wir bitten ihn, zu warten. Wer nicht gewöhnt ist, etwas zu bekommen, dem fällt es schwer, etwas anzunehmen.

Sie haben das Christmas Dinner als Form der Umarmung beschrieben. Was meinen Sie damit?

Im Heim werden Sie nie umarmt, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne. Das hat verheerende Folgen. Einen Teenager nicht zu berühren, ist eine Form von Folter. Wie soll man da Grenzen lernen, sich selbst verstehen? Und dann wird von uns erwartet, dass wir zu voll funktionsfähigen, bindungsfähigen Erwachsenen werden, und zwar auf der Stelle, mit dem 18. Geburtstag.

In diesem Jahr findet zum ersten Mal ein Christmas Dinner in Wigan statt, dem Bezirk, in dem Sie aufgewachsen sind, und gegen den Sie kürzlich Ihre Klage gewonnen haben, ein Vergleich mit sechsstelliger Entschädigungssumme. Unter anderem dafür, dass Sie in eine mittlerweile geschlossene Jugendstrafanstalt gesperrt, dort körperlich und seelisch missbraucht wurden. Wieso kamen Sie überhaupt dahin?

Ich hatte Farbe auf das Dach eines großen Heims geworfen. Junge Leute in Pflege sind immer im Unrecht. Es gehört zur Pubertät, dass man Dummheiten macht. Teenager betrinken sich, schwänzen die Schule, nehmen Drogen. Eltern reden dann mit ihnen, improvisieren – tun ihr Bestes, um da durchzukommen. Im Heim wird gleich die Polizei gerufen. Das ist der erste Schritt der Kriminalisierung.

Hat sich seit Dickens’ Zeiten denn so wenig geändert? Selbst der damalige Premier David Cameron bezeichnete auf dem Konservativen-Parteitag 2015 das britische Pflegesystem als Schande für das Land. Die Kinder seien quasi dazu verdammt, später in Armut zu leben, 70 Prozent der Prostituierten seien in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen.

Die meisten schauen auf Pflegekinder herab. Dabei müsste man sie bewundern. Um das alles zu überleben, braucht man starke Eigenschaften. Empathie, Kreativität. Ihre emotionale Intelligenz ist ganz außergewöhnlich. Das zu zeigen, habe ich mir vorgenommen.

Sie selbst haben schon als Teenager angefangen, Gedichte zu schreiben. Ziemlich ungewöhnlich für einen Jungen von 13 Jahren.

Als ich ins Heim kam, habe ich meine Erlebnisse aufgeschrieben, weil ich so wütend war. Gedichte erschienen mir als Beweis meiner Existenz, als Bestätigung, dass das alles wirklich passiert ist. Schon damals war ich entschlossen, nicht zu vergessen, wie ich ausgetrickst wurde. Und ich bin meine einzige Erinnerung. Irgendwann stellte ich fest, dass niemand in meiner Umgebung mich länger als ein Jahr kannte.

Dichten als Therapie, da werden jetzt einige Ihrer Kollegen aufstöhnen.

Nein, das ist es für mich nicht. Sonst könnte ich einfach zu meinem Therapeuten gehen. Was ich seit Jahren tue. Mit 15 wurden bei mir Depressionen diagnostiziert, damit lebe ich, die gehen ja mit 18 nicht weg. Ich bin bloß froh, dass ich mit dem Trinken aufgehört habe, früher habe ich bei jedem Tief zur Flasche gegriffen. Nein, keine Therapie, aber Schreiben kann kathartisch sein.

Sie tragen mehrere Ehrendoktortitel und wurden 2015 zum Kanzler der University of Manchester gewählt, der Stadt in die Sie mit 18 zogen. Dabei haben Sie selber nie studiert.

Das war keine Option. Zwischen 16 und 18 war ich damit beschäftigt, zu arbeiten, als Vertreter für Waschpulver, ich musste dem Heim Geld für Unterkunft und Verpflegung zahlen.

Sie stiften viel, zum Beispiel ein Stipendium für schwarze Jurastudenten. Lassen Sie sich selber gern beschenken?

Nein, schrecklich! Das kann ich gar nicht gut. Es gibt einen Song von Nat King Cole, „Nature Boy“, mit einer tollen Zeile: „The greatest thing you’ll ever learn is to love – and be loved in return.“ In der Familie übt man das, wenn einen die Oma umarmt zum Beispiel. Auch wenn man das als Kind vielleicht schrecklich findet.

Trotzdem: Gibt es ein Präsent, das eine besondere Bedeutung für Sie hat?

Was ich gern hätte, werde ich nicht kriegen. In der Channel-4-Sendung …

… „Superkids“, eine Dokumentation über sieben Pflegekinder, mit denen Sie einen Lyrik-Workshop machen, die gerade ausgestrahlt wurde.

Darin erzählt ein Junge, wie er seinem besten Freund ins Gesicht geschlagen hat, als dieser gerade aus einer Flasche trank, er hat einen Schneidezahn verloren. Ich habe ihn gefragt, was hatte er, was du nicht hast. Ich wusste, was er antworten würde, und dass er es noch nie ausgesprochen hatte: „A Mom and Dad“. Das ist es, was ich mir wünsche. Und was ich nie haben werde. Kein Geschenk wird da je ran kommen.

Und eine eigene Familie?

Der Gedanke macht mir Angst, ähnlich wie Geschenke. Es ist auch nicht überraschend, dass der Junge, der keine Familie hatte, keine Familie hat. Wenn ich emotional dazu in der Lage wäre – das wäre ein kleines Wunder.

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