zum Hauptinhalt
Marie Nejar 1954 mit Peter Alexander (rechts) bei den Dreharbeiten zum Film „Die süßesten Früchte“.

© ullstein bild

Marie Nejar: Das Glückskind von St. Pauli

Von Joseph Goebbels bekam sie schulfrei, um als Schwarze in Nazi-Filmen mitzuspielen. Nach dem Krieg sang sie als „Leila Negra“. Nun erzählt Marie Nejar in Berlin von ihrem Leben.

Marie ist vier oder fünf Jahre alt, als sie entdeckt wird, ein schwarzes Mädchen an der Hand einer weißen Großmutter, 1934 in Hamburg, die Nazis sind an der Macht. Man sei, wird der Großmutter mitgeteilt, auf ihre Enkelin aufmerksam geworden, der Hautfarbe wegen, sie möge sich einfinden da und dort um diese und jene Zeit.

Was folgt, ist unerwartet. Marie Nejar, das schwarze Mädchen aus Sankt Pauli, wird nicht interniert, sondern engagiert. Man gibt ihr eine Bühnenrolle in Paul Linckes Afrika-Operette „Grigri“. Es bleibt nicht ihr einziger Auftritt im Dritten Reich. Bis kurz vor Kriegsende ist sie mehrfach in den Babelsberger Filmstudios zu Gast, mit Heinz Rühmann dreht sie „Quax in Afrika“, mit Hans Albers „Münchhausen“. Für die Dreharbeiten bekommt sie schulfrei, die Entschuldigungsschreiben tragen die Unterschrift von Propagandaminister Joseph Goebbels.

„Ich war ein Kind“, sagt Marie Nejar. „Ich fand das toll.“

Ein Oktobervormittag in Hamburg- Eimsbüttel, die Herbstsonne scheint durch die Fenster der Seniorenresidenz, in der Marie Nejar heute lebt. Kaum etwas in der nüchtern eingerichteten Zweizimmerwohnung erinnert an die einstige Bühnenkarriere, Marie Nejar gehört zu den Menschen, die ihre Erinnerungen gut sortiert im Kopf aufbewahren.

Ganz genau hat sie noch vor Augen, wie damals in Hamburg die Arbeit an „Grigri“ begann. Man führte das kleine Mädchen auf die Bühne, um ihm die Angst zu nehmen, die Schauspielkollegen umwarben Marie mit Naschwerk und Zärtlichkeiten, auch der deutsche Hauptdarsteller, der in der Operette die Rolle des „Negerkönigs Magawewe“ spielte, ein bleicher Mann mit stahlblauen Augen. Als Marie ihm bei der ersten Probe wiederbegegnete, war er pechschwarz geschminkt. „Ich bekam einen Schreikrampf“, erinnert sie sich. „Ich brüllte, bis er sich die Schuhcreme aus dem Gesicht wischte. Er fragte: Erkennst du mich nicht? Doch, schluchzte ich – du hast mir Schokolade geschenkt, aber wenn du so schwarz bist, mag ich dich gar nicht leiden!“

Es ist eine beispielhafte Episode aus einem Leben, in dem andere schwarze Menschen praktisch nicht vorkamen. Die Großmutter, bei der Marie aufwuchs, hatte um die Jahrhundertwende einen Schwarzen aus der französischen Karibik geheiratet, gegen den Widerstand ihrer Hamburger Familie. Das verstoßene Paar versuchte sein Glück im baltischen Riga, wo Maries Großvater eine Bar betrieb, bis er eines Tages erschossen wurde, von einem Gast, dem die Hautfarbe des Patrons missfiel. Die verwitwete Großmutter kehrte mit der gemeinsamen Tochter Cécilie zurück nach Hamburg.

Maries Mutter war jung, als sie schwanger wurde, der Vater war ein Kapitänssteward aus Ghana, dessen Schiff nur kurz in Hamburg ankerte. Die Mutter hielt die Schwangerschaft geheim, sie gebar Marie in einem Waisenhaus in Mühlheim an der Ruhr, wo sie das Mädchen zur Adoption freigab. Nur durch einen zufällig geöffneten Brief erfuhr die Großmutter davon, die Marie sofort zu sich nahm.

Von ihrer Mutter sah Marie danach nur wenig. Die einzigen anderen Schwarzen, denen sie in ihrer Kindheit flüchtig begegnete, waren Tante Henny und Onkel Abdullah, Bekannte der Großmutter, die als Exponate eines Menschenzoos nach Hamburg gelangt waren, der „Völkerschau“ im Tierpark Hagenbeck. Das gewisperte Wort „Blutschande“, das Marie bei ihren Spaziergängen mit der Großmutter aufschnappte, verstand sie nicht. Auch die Bemerkung einer Bekannten, dass Marie ziemlich weiß geraten wäre, wenn ihre Mischlingsmutter statt eines Schwarzen einen Weißen geheiratet hätte, begriff sie nicht gleich. Lange glaubte sie, ihre Haut werde nachträglich erbleichen, wenn sich ein weißer Gatte für ihre Mutter fände. Sie war enttäuscht, als man ihr erklärte, dass es dafür zu spät sei.

Umso begeisterter spielte sie die Königstochter in „Grigri“, als der anfängliche Schock über den untergeschobenen Schuhcreme-Vater verflogen war. „Endlich hatte ich einmal die richtige Hautfarbe. Die anderen mussten geschminkt werden, ich nicht.“ Zwar war die Großmutter nicht begeistert, als auf das erste Engagement weitere folgten, sie fürchtete, man werde ihrer Enkelin Flausen in den Kopf setzen. Die Gagen aber waren willkommene Zusatzeinkünfte für die Kleinfamilie, die von der Rente der Großmutter lebte, 18 Reichsmark im Monat.

Erst lange nach dem Krieg traf Marie andere Schwarze wieder, die wie sie selbst in Nazi-Filmen mitgespielt hatten. Ein älterer Kollege offenbarte ihr, dass er voller Angst vor der Kamera gestanden hatte, weil er sicher war, dass man die schwarzen Statisten nach den Dreharbeiten gesammelt ins KZ verfrachten werde. „Daran habe ich nie gedacht“, sagt Marie Nejar. „Am Set waren ja alle nett zu uns.“

Auch jenseits der Filmkulissen nahm sie wenig Notiz von den Gefahren, die ihr drohten. Mit ihren weißen Mitschülern verstand sie sich gut, auch unter den Lehrern, sagt sie, habe es nur wenige gegeben, die offen feindselig mit ihr umgingen. Als der „Bund Deutscher Mädel“ ihr einen Einladungsbrief schickte, freute sie sich. „Die wussten ja nicht, wie ich aussehe.“ Dass ihre Großmutter sie nicht zu den BDM-Treffen gehen lassen wollte, sah sie nicht ein, schließlich hatten die älteren Mädchen erzählt, dass dort gesungen und geturnt werde. „Was willst du hier?“, schrie man sie an, als sie an die Tür des Vereinsheims klopfte. „Scher dich weg, Niggergöre!“ Abgesehen von solchen Beschimpfungen stieß ihr nie Ernsthaftes zu. Es könnte an Sankt Paulis Nähe zum Hafen gelegen haben, vermutet Marie Nejar: Den Hamburgern sei der Anblick schwarzer Menschen ein wenig vertrauter gewesen als anderen Deutschen.

Erst kurz vor Kriegsende wurde sie als Zwangsarbeiterin eingezogen. Zunächst landete sie in einem Munitionswerk, aber weil man dem winzigen Mädchen die schwere Arbeit nicht zutraute, wurde Marie weitergeschickt in eine Keksfabrik. Es sei, sagt sie, nicht das schlimmste Schicksal gewesen, das eine Zwangsarbeiterin treffen konnte.

Ein Zufall war es, der ihr nach dem Krieg erneut eine Bühnenkarriere eröffnete. Marie arbeitete als Zigarettenverkäuferin. In einem Lokal am Timmendorfer Strand bat sie eines Tages ein Techniker, testweise in ein Mikrofon zu sprechen, das der Mann für defekt hielt. Marie sang ein Lied. Das Mikrofon funktionierte. Bloß war der Ton nicht im Lokal zu hören, sondern draußen am Strand. Abends tauchten Gäste auf, die nach dem Mädchen fragten, das tagsüber so zart gesungen habe. Marie wurde engagiert.

Ein zufällig im Publikum sitzender Schallplattenproduzent holte sie kurz darauf nach Wien, er war es, der ihr den Künstlernamen „Leila Negra“ verpasste. Obwohl Marie inzwischen Anfang 20 war, gab man sie als 14-Jährige aus, der Produzent wollte sie zum Kinderstar machen, auf die Bühne schickte er sie mit einem Teddybären im Arm. In Revuen und Filmen sang Marie an der Seite von Peter Alexander, Conny Froboess, Lale Andersen, Peter Kraus. Viele ihrer Lieder waren wehmütige Schlager, die um Mitleid warben, stellvertretend für jene schwarzen „Besatzungskinder“, die nach dem Krieg in Deutschland geboren wurden: „Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist“, „Negerwiegenlied“, „Zwölf kleine Negerlein“, „Ein kleines Negerlein im Schnee“.

Damals, sagt Marie Nejar heute, habe sie sich bei solchen Titeln nicht viel gedacht, so wie sie auch bei den Buschvolk-Filmen der Nazi-Zeit erst sehr viel später verstanden habe, „dass man uns ausnutzte, uns als Deppen auftreten ließ“. Auch wenn ihr das N-Wort früher leicht über die Lippen ging, ist sie froh, dass es heute aus dem Sprachgebrauch verbannt wird, allen Unbelehrbaren zum Trotz, die gerne betont laut von „NEEE-GEER-küssen“ sprechen, wenn in der Süßwarenabteilung ein Schwarzer neben ihnen steht. Sie könne leider nicht behaupten, sagt Marie Nejar, dass diese Art von Alltagsrassismus in ihren 83 deutschen Lebensjahren merklich abgenommen habe.

Ihre Bühnenkarriere scheiterte an einem anderen Wort. Marie war 27, als sie die Lust verlor, mit Teddybär im Arm „Sonnenscheinchen nennt mich alle Welt“ zu singen. Als das Lied bei einem Auftritt gefordert wurde, weigerte sie sich. „Ich war kein Sonnenscheinchen mehr, es ging nicht.“ Die Produzenten zahlten ihr 2000 D-Mark für die Rechte an ihren Aufnahmen, das Geld investierte Marie in eine Ausbildung. Sie wurde Krankenschwester, ein Beruf, in dem sie bis zu ihrer Rente gearbeitet hat. Bereut, sagt sie, habe sie ihren Ausstieg nie.

Am Sonntag, 3. 11., führt das Isola Bella Salonorchester die Paul-Lincke-Operette „Grigri“ auf (15 Uhr, Ernst-Reuter- Saal, Eichborndamm 215, Reinickendorf). Zu Gast ist Marie Nejar, die über ihren Auftritt in „Grigri“ von 1934 erzählen wird.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false