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Musiker läuten mit E-Bass und E-Trommel das Wochenende ein.

© Veronica Frenzel

Soziales Engagement: Asyl im Hotel

In Augsburg suchten Künstler ein Domizil – daraus wurde ein einmaliges Modell: Im „Grandhotel“ wohnen und arbeiten Flüchtlinge, Urlauber und Kreative unter einem Dach. Eine Stippvisite.

Der rote Läufer auf den Stufen ist schmutzig. Spuren von schwarzen Abdrücken. Und das bei einem Grandhotel. Flecken? Hotelier Michi Hegele – ein junger Mann mit Schiebermütze und entspanntem Grinsen – setzt sich einfach drauf. Er ist müde. Wieder hat er zwölf Stunden gearbeitet. Hat Mails geschrieben, Möbel geschleppt, mit Kollegen und Gästen diskutiert. Jetzt soll Schluss sein. Es ist Freitagabend, Sommer. Auf dem Vorplatz des Hotels, gleich vor ihm, läuten zwei Jungs auf ihren Keyboards das Wochenende ein.
Da streckt ihm ein Gast einen Brief entgegen. „I need your help“, sagt der Mann um die 40, dunkle Haut, gesenkter Blick. Hegele liest. Und Sommer und Freitagabend sind plötzlich wieder weit weg. Der Brief ist ein Strafbefehl. Der Gast soll 800 Euro zahlen, weil er keinen Reisepass besitzt. Hegele legt seine Hand auf die linke Schulter des Mannes. „Montag sprechen wir mit einem Anwalt.“
Das Grandhotel Cosmopolis ist mehr als ein Hotel. Es ist die 15. Augsburger Gemeinschaftsunterkunft, mit Betten für 60 Asylbewerber, aber auch für zahlende Gäste. Und vor allem ist es: Realität gewordene Utopie. Das Asylbewerberheim ist ein Ort der Begegnungen – zwischen denen, die bleiben wollen, und denen, die ihnen dabei helfen wollen. Die Bewohner nennen ihre Unterkunft tatsächlich „Himmel“ oder „Zuhause“.
Und das mitten in Bayern, dem Bundesland mit der restriktivsten Flüchtlingspolitik, wo immer noch die Residenzpflicht herrscht, die es Asylbewerbern verbietet, den Landkreis ihrer Unterkunft zu verlassen. In Bayern, wo dreimal so viele Flüchtlinge wie in Berlin leben, derzeit etwa 30000.
Der Mann ohne Reisepass kommt aus Somalia. Vier Jahre wartet er bereits auf das Ergebnis seines Asylverfahrens, in immer neuen Gemeinschaftsunterkünften. Das Warten, sagt er, sei die Hölle. Das Grandhotel nennt er „ein Paradies“. Er erklärt: „Hier ist es leicht, nicht an seine Sorgen zu denken.“ Heute zum Beispiel hat er Schilder bemalt und mit vier Menschen gesprochen, die er vorher nicht kannte.
In den Asylbewerberheimen, wo er zuvor war, lag er tagelang allein in seinem Bett und starrte an die Decke. „Hier ist ein bisschen afrikanische Familie“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Immer könne er jemanden ansprechen. Michi Hegele oder einen der anderen 60 Hoteliers – so nennen sich die Menschen, die ironisch an den Ruf eines „Vier Jahreszeiten“ in München anknüpfen, aber eigentlich ganz normal im Grandhotel arbeiten. Stundenweise, halbtags, ganztags, fast alle freiwillig, nur vier verdienen 450 Euro im Monat.
Hegele ist 31 Jahre alt. Er hat Sozialwissenschaften studiert, gerade ist er Vater geworden. Seit seinem Abschluss verbringt er mehr als 50 Stunden in der Woche im Grandhotel – mindestens. Seine Frau ernährt die Familie, sie ist Lehrerin.
Wenn Hegele versucht, zu erklären, wie das Grandhotel funktioniert, vergleicht er das Haus mit einem Containerschiff. „Alle Container haben das gleiche Ziel, aber sie haben unterschiedliche Inhalte und sind unabhängig voneinander.“ Ein Container steht für einen Aufgabenbereich. Hegele arbeitet mit etwa zehn anderen Menschen im sogenannten Asyl-Container. Daneben gibt es noch einen für das Restaurant, das Hotel, einen für die Bar oder einen für Veranstaltungen. Bis vor ein paar Monaten wurde alles im Plenum diskutiert, auch die Frage, ob ein rosa Waschbecken ins Hotel passe, nun dürfen die Gruppen autonom entscheiden.
Die Geschichte des Augsburger Modells beginnt vor drei Jahren. Michi Hegele und ein paar Freunde aus der Augsburger Künstlerszene suchen ein leer stehendes Gebäude, das sie zwischennutzen können, als Atelier, Ausstellungs- und Partyraum. Die Brauerei, die zuletzt ihr Refugium war, ist gerade abgerissen worden. Einer der Freunde, Georg Heber, entdeckt ein verlassenes Altenheim im Domviertel, dem ruhigen Zentrum der verwinkelten Innenstadt. Das Gebäude gehört der Diakonie, steht seit vier Jahren leer. Sechs Etagen, 66 Zimmer, 2630 Quadratmeter, tausende Möglichkeiten. Die Regierung von Schwaben, heißt es, will dort Asylbewerber unterbringen.
Wie wäre es, wenn wir mit ihnen einziehen?, fragen sich die Freunde. Und mit uns Hotelgäste aus der ganzen Welt? Sie schreiben das „Konzept für eine soziale Plastik im Herzen von Augsburg“, inspiriert von Joseph Beuys’ Satz: „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Sie nennen das Projekt „Grandhotel Cosmopolis“. Es soll Ateliers geben, ein Tonstudio, eine Bar, eine Wäscherei, ein Restaurant. Hotelgäste, Flüchtlinge, Künstler sollen sich einbringen. Der Chef der Augsburger Diakonie ist begeistert, gibt den Kreativen den Schlüssel in die Hand, damit sie sich das Gebäude einmal von innen ansehen. Denn niemand aus der Gruppe hat es bis dahin je betreten. Drei Jahre später sagt Georg Heber, einer der Freunde, über diesen Moment: „Die Diakonie hat uns die Tür einen Spalt geöffnet, und wir sind mit dem ganzen Fuß rein.“
Die Sozialkünstler hat die Besichtigung eher bestärkt, sie verlassen das Altenheim jedenfalls nicht mehr und beginnen zu renovieren. Das Diakonische Werk Augsburg unterstützt sie. Nimmt einen Kredit über 340000 Euro auf, für Heizungsarbeiten, Sanitäranlagen und Brandschutzmaßnahmen, lässt die Freunde während der Umbauarbeiten im Haus wohnen und zahlt die Nebenkosten. Andere Sympathisanten spenden. Baumaterial, Möbel, Arbeitszeit, jeder gibt, was er kann.
In die Lobby, die gleichzeitig Hotelbar ist, hängen die Freunde fünf Uhren und stellen sie nach der Uhrzeit in fünf Brennpunkten dieser Welt: Lampedusa, Gaza, Manila, Port-au-Prince und Dadhaab in Kenia. Sie stellen eine Theke in die Lobby und einen Kühlschrank. Das Hotel wird schnell zum Treffpunkt der alternativen Augsburger Kulturszene. An der Bar zahlt jeder, was er für richtig hält. Viele, die vorbeikommen, wollen mitmachen.
Im Juli 2013, nach ungefähr 100000 unbezahlten Arbeitsstunden, sind die Zimmer für die Gäste mit Asyl fertig. Die ersten Flüchtlinge ziehen ein, drei tschetschenische Familien.
Michi Hegele sagt, seitdem habe sich die Soziale Plastik radikal verändert. „Als wir anfingen, hatten wir keine Ahnung vom Asylrecht. Wir wollten erst mal unser eigenes Leben verbessern. Mittlerweile sind wir Asyl-Experten.“ Der Großteil des Geldes, das im Hotel eingenommen wird, fließt jetzt in den sogenannten Asyl-Container.
Schon wenige Wochen nach dem Einzug der Flüchtlinge liegen die ersten Abschiebebescheide im Briefkasten. Die tschetschenischen Familien, die über Polen eingereist sind, sollen dorthin zurückgebracht werden. Nach der Dublin-Verordnung ist das erste EU-Land, das ein Flüchtling betritt, für das Asylverfahren zuständig. Die Familien haben Angst, sie sagen, man hätte sie in Polen in den Heimen geschlagen. Die Hoteliers kämpfen gegen die Abschiebung, sie sprechen mit Behörden und Politikern, sammeln Spenden, beauftragen Anwälte, starten Petitionen. Am Ende erreichen sie nichts. Um nicht nach Polen abgeschoben zu werden, erklären sich nun die Familien bereit, freiwillig nach Tschetschenien zurückzukehren.
Auch für Farhad Jooyenda starten Hegele und die anderen eine Petition, diesmal mit Erfolg. Der afghanische Popmusiker ist 2012 vor den Taliban nach Deutschland geflohen. Mit 13 Müttern, ein paar von ihnen CSU-Wählerinnen, sprechen die Grandhotel-Gründer im Bayerischen Landtag vor. Am Ende darf Farhad Jooyenda bleiben. Im Tonstudio des Grandhotel nimmt er daraufhin ein Lied auf, das er auf Youtube hochlädt – und das wenig später auf Platz zwei der afghanischen Charts landet.
Der Musiker arbeitet jetzt in einem Restaurant, er hat eine eigene Wohnung und spricht perfekt Deutsch. Im Grandhotel ist er immer noch jeden Tag. Er sagt: „Hier ist meine Familie.“
Anfang 2014 sind auch die Hotel- und Hostelzimmer fertig, gestaltet von Künstlern und Flüchtlingen. In einem Zimmer schlafen die Gäste in einer aus Paletten gezimmerten Hütte. Die Wände in einem Mehrbettzimmer zieren Bibelzitate, die eines anderen kunstvoll gemalte Koransuren.
Menschen aus ganz Deutschland haben bereits dort übernachtet. Sie kamen meist, nachdem sie aus den Medien vom Grandhotel erfahren hatten. Sogar ein chinesisches Paar war da, auf Empfehlung des Augsburger Rotary-Clubs. Wer dort übernachtet, gehört dazu, wird gefragt, ob er mal was tragen kann oder sich einfach dazusetzen mag. Irgendwann schwärmt jeder Gast an der Hotelbar über die tolle Atmosphäre.
Am letzten Samstag im Juli veranstalten die Hoteliers ein Fest im verwinkelten Domviertel. Es ist eine Charmeoffensive. Die Anwohner sollen sich für das Grandhotel begeistern, zum Beispiel bei afrikanischem Essen und Blasmusik von Michi Hegeles Vater.
Am Abend vibriert das Grandhotel, die Besucher wollen nicht gehen, die Hoteliers sind überdreht nach tagelanger, hektischer Vorbereitung. Um kurz vor Mitternacht klingelt das erste Mal die Polizei. Die Nachbarn von gegenüber haben sich beschwert, wieder mal. Zum Fest sind sie nicht gekommen. Ein paar Hoteliers versuchen, die Gäste in das Restaurant im Keller zu locken. Erfolglos. Keine halbe Stunde später ist die Polizei wieder da. „Morgen schaue ich bei den Nachbarn vorbei“, sagt Michi Hegele. „Und dann müssen wir echt mal leiser sein.“ Die anderen nicken. Die Party geht im Keller weiter.
Das Grandhotel Cosmopolis ist im Springergässchen 5, Tel. 0821- 45082411.

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