zum Hauptinhalt
Der Vermittler. Stephen Hawking versuchte immer, an die Welt seiner Leser anzuknüpfen.

© imago/

Tochter von Stephen Hawking im Interview: Lucy Hawking: "Mein Vater war undenkbar"

Zu Weihnachten wollte Stephen Hawking immer Gans statt Truthahn. Seine Tochter Lucy über das erste Fest ohne ihn, Schachspielen und ein Feuerwerk in Cambridge.

Frau Hawking, Ihr Vater Stephen ist im März gestorben. Seine Asche wurde im Juni in der Westminster Abbey beigesetzt, zwischen den Gräbern von Isaac Newton und Charles Darwin.

Oh ja, gerade vergangenen Samstag habe ich ihn dort besucht. Ich hatte plötzlich das starke Bedürfnis, ihn zu sehen. Seit der Beisetzung war ich nicht mehr da gewesen. Der Chor probte, die Dämmerung setzte ein, die Kronleuchter waren an. Es war ein außergewöhnlicher Moment. Ich zündete eine Kerze an, und jemand erzählte mir, dass unlängst zwei Touristen nach dem Grab meines Vaters gesucht hätten. Sie fragten: Aber warum ist er ausgerechnet in England beerdigt?

Wahrscheinlich kannten sie, wie alle Welt, nur die Stimme seines Sprachcomputers mit dem amerikanischen Akzent?

Exakt. Und natürlich waren es Amerikaner. Jedes Klischee hat einen wahren Kern.

Wer entscheidet eigentlich, wer für immer neben Newton und Darwin gehört?

Nicht wir. Nach seinem Tod wollte die Familie ihn in Cambridge begraben, weil er der Universität so verbunden war. Einen Tag später rief der Dean of Westminster an, ob wir uns vorstellen könnten, die Trauerfeier in der Westminster Abbey auszurichten. Und ob er in der Kathedrale bei Newton und Darwin liegen könnte. Ich wünschte, mein Vater hätte das noch erfahren. Dass überhaupt noch so komfortabel Platz war zwischen den beiden!

Sein gerade posthum veröffentlichtes Buch "Kurze Antworten auf große Fragen" wird als sein Testament gelesen. Es stand einige Wochen auf Platz eins der deutschen Bestsellerliste.

Deutsche sind sehr offen für komplexe Sachverhalte und versuchen wirklich, existenzielle Dinge zu verstehen. Mir war wichtig, dass dieses Buch in seinen eigenen Worten abgefasst ist.

Als Teenager habe Lucy Hawking mit der großen Figur in ihrem Leben gehadert. Heute feiert sie ihren genialen Vater.
Als Teenager habe Lucy Hawking mit der großen Figur in ihrem Leben gehadert. Heute feiert sie ihren genialen Vater.

© Doris Spiekermann-Klaas

Sie haben dafür – anfangs noch mit ihm zusammen – seine Aufzeichnungen durchforstet. Wie muss man sich Stephen Hawkings Archiv vorstellen?

Es gibt ein physisches Archiv mit Papier und Korrespondenz. Schon das ist immens. Hinzu kommt das digitale, das er und seine Uni-Assistenten über die Jahre kuratiert haben. Das hat etwa 500.000 Worte. Er hat alle Fragen behalten, zu den Antworten, die er Leuten gegeben hat. Es wurden ihm ja immer wieder die gleichen gestellt.

Er hat offensichtlich daran gearbeitet, jedes Mal seine Antwort zu verbessern. War er denn nie genervt davon?

Nein. Er glaubte nicht, sich diesen Luxus herausnehmen zu dürfen.

Zuletzt war Ihr Vater ein Orakel. Die Leute pilgerten zu ihm, warteten lange auf seine kurze Antwort.

Das Orakel von Cambridge, das hätte er gemocht! Ich glaube, er hat seinen Stil so entwickelt, weil der Sprachcomputer derart langsam war. Er suchte deshalb ständig nach dem einfachsten Weg etwas auszudrücken. Das Medium begründete somit auch die Form.

Der einzige Vorteil: Schon aus technischen Gründen konnte Ihr Vater nie eine unüberlegte Antwort geben. Er brauchte auch mal eine Viertelstunde, um mit seinem rechten Wangenmuskel den Sensor des Sprachcomputers zu bedienen.

Er hat immer versucht, die Situation positiv zu sehen, aber ich weiß, dass er sich gegen Ende seines Lebens auch einsam gefühlt hat. Er hatte das Gefühl, dass wegen seiner Intelligenz, seines Status und auch wegen seiner Behinderung die Leute nicht mit ihm reden würden.

Wann haben Sie begriffen, dass man Ihren Vater ein Genie nannte?

Ich erinnere mich, dass wir in der Schule einmal die Berufe unserer Eltern angeben mussten. Ich schrieb: Mein Vater ist ein Kosmologe. Meine Lehrer hatten keine Ahnung, was das sein sollte. Ich erklärte ihnen, dass er natürlich den Ursprung des Universums erforscht.

"Die Idee von Teilhabe faszinierte ihn"

Als Teenager habe Lucy Hawking mit der großen Figur in ihrem Leben gehadert. Heute feiert sie ihren genialen Vater.
Als Teenager habe Lucy Hawking mit der großen Figur in ihrem Leben gehadert. Heute feiert sie ihren genialen Vater.

© Doris Spiekermann-Klaas

Er war damals noch nicht berühmt.

Erst als ich etwa zwölf war, haben die Leute gesagt, oh, dein Papa ist so schlau! Ich habe nur langsam begriffen, dass ich keine normale Kindheit hatte. Vergangene Woche bin ich gefragt worden, ob ich für die entscheidende Partie der Schachweltmeisterschaft in London den ersten Zug ziehen würde.

Was für eine seltsame Bitte.

Ja, total abseitig. Magnus Carlsen und Fabiano Caruana hatten zwölf Partien mit Remis beendet, ich sollte für den Tiebrake einspringen. Ich stand neben Carlsen, und die Konzentration, die von den Spielern aus ging, pulsierte geradezu. Beide waren vollkommen in Gedanken, dann bat Carlsen mich um diese kleine, einfache Handreichung. Es war einfach genau wie mit meinem Vater zusammen zu sein! Plötzlich war ich total entspannt.

Haben Sie gegen Ihren Vater auch Schach gespielt?

Als Mädchen, ja. Und ich habe nie verstanden, warum er jedes Mal gewonnen hat. Ich dachte, er hätte Glück. Als Teenager sagte ich Sachen wie: "Du hast überhaupt keine Ahnung, du weißt nichts." Er hat darüber gelacht.

Wie definieren Sie ein Genie?

Er hat das von sich nie behauptet. Es ist jedenfalls nicht reine Intelligenz, das könnte heute ein Computer leisten. Information allein reicht nicht, Inspiration auch nicht. Inspiration und Vorstellungskraft ergibt nur Fantasie. Wenn man aber Intuition und Information mit Vorstellungskraft zusammenführt, kann man große Fortschritte machen.

Ihr Vater hat einmal gesagt, er habe erst mit 21 Jahren, als bei ihm die Krankheit ALS diagnostiziert wurde, begonnen, wirklich hart zu arbeiten.

Als Student in Oxford musste man damals so tun, als müsse man sich für seinen Erfolg nicht anstrengen. Das war eine Frage des Stils. Wenn jemand plötzlich ins Zimmer kam, schob man schnell alle Unterlagen weg und gab vor, Musik zu hören. Aber mein Vater hat an den Wert von Arbeit geglaubt und selbst ungeheuer hart gearbeitet, sein ganzes Leben lang.

Trotzdem wäre seine Karriere als Physiker nie möglich geworden ohne die Unterstützung seiner Familie, Ihrer Mutter Jane, der drei Kinder. Er verlor zunehmend seine Bewegungsfähigkeit, 1985 seine Stimme.

Der ganze Mann war eigentlich undenkbar. Es war in den 70ern einzigartig für eine Person mit Behinderung, überhaupt eine eigene Familie zu haben. Die Leute haben sich nach uns umgedreht. Auch heute noch wäre es unwahrscheinlich, mit dieser Krankheit eine Professur an einer Eliteuniversität zu halten. Wenn man ein Leben führt, das sich von dem anderer so extrem unterscheidet, hält man die ganze Zeit nach verbindenden Elementen Ausschau. Bei meinem Vater kann man dieses Bemühen gut an seinem Schreibstil ablesen: Er versuchte immer, an die Welt seiner Leser anzuknüpfen. Beziehungen herzustellen, sie hineinzuziehen.

Heißt das, das krankheitsbedingt verstärkte Verständigungsbedürfnis Ihres Vaters hat nebenbei zur Mitbegründung des Genres der Populärwissenschaft geführt?

Das kann man so sagen. Es ging darum, Verbindungen zum "kleinen Mann" herzustellen, der sonst gar keinen Zugang hätte zu abstrakten Gedankenwelten. Die Idee von Teilhabe faszinierte ihn.

Wie weit lässt sich theoretische Physik vereinfachen?

Darüber haben wir viel diskutiert. Für die Kinderbücher, die ich mit meinem Vater schrieb, haben wir entschieden: Es gibt Dinge, die können nicht weiter vereinfacht werden. Weil man ihre gesamte Bedeutung verlieren würde. Die Themen ließen wir weg. Aber es gibt heute einen starken Glauben daran, dass man alles ganz und gar vereinfachen kann. Wie einfach es zum Beispiel sein soll, die EU zu verlassen!

Einfach Artikel 50 auslösen ...

... schließt die Türen, lasst uns losfahren!

"Pyrotechniker zündeten Shows in seinem Garten"

Lucy Hawking legt während der Trauerfeier in der Westminster Abbey Blumen an der Urne ihres Vaters.
Lucy Hawking legt während der Trauerfeier in der Westminster Abbey Blumen an der Urne ihres Vaters.

© Ben Stansall/PA Wire/dpa

Ihr Vater hat mit seinem berühmten Vereinfachungs-Buch "Eine kurze Geschichte der Zeit" ganz ungefährlich der Populärwissenschaft Auftrieb gegeben. Ein Weltbestseller.

Er fand, weil sein Gehalt als Universitätsprofessor von den Steuerzahlern kam, müsste er ihnen auch erklären, was er da eigentlich macht an der Uni. Als er das Buch schrieb, fragten alle: Was soll das sein? Es gab bei der Verlagskonferenz einen einzigen Lektor, der sich vorbehaltlos dafür aussprach. Er wollte 5000 Exemplare drucken. Die anderen hielten ihn für verrückt. Von einem Hardcover über Physik! Sie haben ihn auf 3000 herunterdiskutiert. Die waren praktisch verkauft, als die Geschäfte öffneten. Über 20 Jahre lang ist es jetzt immer wieder nachgedruckt worden.

Heute erscheint der Klimawandel allen dringend, aber Ihr Vater hat ihn schon vor 20 Jahren kommen sehen. Hat Ihre Familie aus diesen Überlegungen praktische Schlüsse gezogen?

Fahrrad gefahren sind wir schon deshalb, weil wir aus Cambridge waren. Er selbst war ja ganz auf Strom angewiesen mit seinem elektrischen Rollstuhl. Für den Fall eines Stromausfalls hatten wir einen eigenen Generator. Kurz nach der Jahrtausendwende sagte er, wir sollten langsam darüber nachdenken, auch andere Plätze im All zu bewohnen, das klang damals verrückt. Jetzt ist der Gedanke ganz normal geworden, Privatleute finanzieren Missionen zum Mars.

Sie haben mal erzählt, als Familie seien Sie nie in Urlaub, sondern stattdessen auf wissenschaftliche Konferenzen gefahren.

Einmal sind wir nach Korsika geflogen. Ich fand es großartig, es gab den Strand, die mediterrane Umgebung, so etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Plötzlich kamen mir einige Gesichter ziemlich bekannt vor. "Hey, den kennen wir!" Oh, und den auch! Da fiel der Groschen. Mein Bruder und ich fragten unsere Eltern: "Habt Ihr uns etwa zu einer Physik-Konferenz gebracht?"

Sie sehen dabei gar nicht unglücklich aus.

Als ich jünger war, habe ich gehadert mit der großen Figur in meinem Leben. Dieser Mann ist so beeinträchtigt, leidet und kämpft, und trotzdem erreicht er so viel! Irgendwann begriff ich, dass es nicht um Konkurrenz geht. Warum sollte ich ihn überhaupt übertreffen wollen? Warum feiere ich nicht einfach, dass mein Vater so großartig ist?

Auch für ihn muss es schwierig gewesen sein, seine Rolle zu interpretieren. Er konnte ja nicht auf klassische Art mit seinen Kindern herumtollen.

Es war eine der großen Traurigkeiten in seinem Leben, dass er nicht einfach auf dem Boden mit seinen Kindern spielen konnte. Er hat ja versucht, nichts zu bedauern, sein Lieblingslied war von Edith Piaf, „Je ne regrette rien.“ Aber wenn er irgendetwas bedauert hat, dann das.

Aus der Ferne sieht es so aus, als hätten Ihr Vater und Sie mit einer Idee erst richtig zusammengefunden: 2006 haben Sie beide das Kinderbuch "Der geheime Schlüssel zum Universum" geschrieben und zwölf Jahre lang an den Folgebänden gearbeitet.

Ich bin damals mit meinem Sohn nach Cambridge zurückgezogen. Auf dessen Geburtstagsfeier fragte ein Kind meinen Vater, was passieren würde, wenn er in ein schwarzes Loch fiele. Er sagte: "Dann wirst du dich in Spaghetti verwandeln." Mir gefiel die Frage: Was passiert, wenn ein Junge in ein schwarzes Loch fällt? Ich wollte diese Geschichte erzählen. Mein Vater würde die Wissenschaft beitragen, ich die Handlung.

Was an ihm vermissen Sie am meisten?

Ich war neulich wieder in seinem Haus, und das ist mir wirklich schwergefallen. Dauernd habe ich gedacht, er würde gleich irgendwo auftauchen. In den ersten Monaten habe ich seinen Tod für vollkommen irreal gehalten. Ich habe dauernd damit gerechnet, dass er um die Ecke biegt: "Ha, großer Witz. Ich bin zurück." So würde er reden. "Tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe."

Hörte man ihn kommen?

Ja, den elektrischen Rollstuhl. Immer, wenn diese Frequenz irgendwo zu hören ist, erwarte ich ihn wieder. Jetzt zum ersten Mal ohne ihn Weihnachten zu feiern, finde ich schwierig. Wir hatten das große Familienessen stets einen Tag später, am 26., seinem Namenstag. Ich habe gekocht. Weil er Truthahn nicht leiden konnte, gab’s Gans. Mein Vater mochte große Gesellschaften, Essen mit vielen Leuten. Er liebte Partys und Feuerwerk.

Feuerwerk?

Ja, irgendwie hatte er sich mit diesen verrückten Pyrotechnikern angefreundet, die in Cambridge eine Feuerwerks-Firma besaßen. Sie zündeten professionelle Choreografien in seinem Garten.

Klingt nicht sehr legal.

Überhaupt nicht. Zunächst sendeten sie ihm ein paar Raketen als Geschenk. Die habe ich gefunden: "Papa, das ist professionelles Feuerwerk – was macht das in deiner Garage?" Ich habe die Leute gebeten, ihm nichts mehr zu schicken, da boten sie an, es für uns anzuzünden. Eine unglaubliche Show! Sie ist zur Tradition geworden, jedes Jahr zu seinem Geburtstag im Januar. Eines Tages waren im Haus nebenan neue Nachbarn eingezogen, die draußen in ihrem Whirlpool saßen, als plötzlich alles um sie herum explodierte. Raketenstäbe regneten auf ihre Köpfe, sie sind halb nackt aus dem Wasser gesprungen. Da sind wir Freunde geworden und haben sie jedes Jahr eingeladen.

Zur Startseite