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Turiner Grabtuch: Verehrt und umstritten

Das "Grabtuch Jesu" ist erstmals nach zehn Jahren wieder öffentlich im Turiner Dom ausgestellt

Dämmerlicht im Dom. Die lange Reihe der barocken Seitenaltäre wirkt wie von warmen, stillen Kerzen erleuchtet, und von hinten links, diese mattgold schimmernde Heiligengalerie entlang, schieben sich die Besuchermassen nach vorne. 5000 pro Stunde, 12 000 schon am Samstagabend; am Sonntag waren es 40 000. Aus Deutschland sind bislang 11 000 Karten für diese besondere Ausstellung in Turin bestellt worden. Bis zum 23. Mai werden hier zwei Millionen Leute erwartet, Pilger, Neugierige, Skeptiker, Betende – und der Papst.

Da bleiben dem Einzelnen ganze drei Minuten Zeit – höchstens fünf, so haben es die Turiner Planer ausgerechnet – für das Ziel dieser Wallfahrt. Da vorne im Dom hängt es, wo sonst der Altar steht, umrahmt von rotem Samt, spärlich dekoriert von einem weißen Orchideenbukett, von zwei Barockengeln mit schiefen Kerzen und von zwei lebenden Polizisten in blau-weiß-roter Galauniform, silbernglänzende Degen an der Seite.

Das Ziel der Wallfahrt sieht aus wie ein großes Dia – es steckt allerdings in einem wuchtigen, technikgrauen Stahlrahmen. Hinter Panzerglas hängt es, in Edelgas, weil der Sauerstoff, den die Menschen zum Leben brauchen, für das Objekt ihrer Bewunderung auf Dauer den Tod bedeutet. Im Licht technisch ausgetüftelter Spezialscheinwerfer, die alle irgendwie schädlichen Strahlen ausblenden, wirkt das Leinen viel kälter, als man es von allen Fotos zu kennen glaubt – dieses gut vier Meter lange Gewebe, „das am meisten untersuchte Textil der Geschichte“, wie sie in Turin sagen, die rätselhafteste, umstrittenste Reliquie der Christenheit.

Vor zehn Jahren ist das „Grabtuch Jesu“ zum letzten Mal öffentlich gezeigt worden, und ein recht entspannter Bruno Barberis scheint geradezu froh darüber zu sein, dass er diesmal ein Stück Ballast weniger an Bord hat. Barberis leitet in Turin das „Internationale Zentrum für Sindonologie“ – wie die Grabtuchforschung amtlich heißt –, und anders als bei früheren Ausstellungen gibt es dieses Jahr keine wissenschaftliche Tagung über die Echtheit des Tuchs. „Die letzten Materialproben sind vor 30 Jahren genommen worden, und außer aberwitzigen Spekulationen hätten wir diesmal nichts zu diskutieren.“

Barberis hat sich vor eine riesige Fotografie des Grabtuchs gestellt; er gibt ein Fernsehinterview nach dem anderen, der Welt erklärend, was bisher nicht erklärt werden kann: wie alt das Tuch ist, zum Beispiel. Eine mittelalterliche Fälschung? Oder war tatsächlich Jesus darin eingewickelt? Die C14-Methode, also die Altersbestimmung über den radioaktiven Zerfall von Kohlenstoffatomen, deutet auf einen Entstehungszeitraum um 1300 hin, und tatsächlich wird das Grabtuch auch 1356 zum ersten Mal in Urkunden erwähnt.

Aber Barberis weiß, dass es in der so oder so gläubigen Forschergemeinde zu jeder Theorie über das Grabtuch mindestens eine Gegentheorie gibt, dass heute die damals so eindeutige C14-Untersuchung von 1988 wieder heftig angezweifelt wird, dass Pollen auf dem Tuch zumindest dessen Herkunft aus Palästina nahelegen – und dass man bei der „gewaltigen Entwicklung der Wissenschaft“ heute wohl zu neuen Ergebnissen käme: „Vielleicht, hoffentlich, dürfen wir das Tuch ja in zwei oder drei Jahren aufs Neue untersuchen.“

Andere lassen die Echtheitsfrage inzwischen auf sich beruhen. Severino Kardinal Poletto zum Beispiel, der Erzbischof von Turin, sagt zur Eröffnung der großen Ausstellung, für ihn sei „das Tuch das Bild des Leidens Christi“; den Gläubigen wolle er aber seine persönliche Sicht nicht aufdrücken, und über die Frage der Echtheit könne nicht die Kirche, da müssten die Wissenschaftler entscheiden, „wenn die es denn schaffen“. Giuseppe Ghiberti, der Monsignore, welcher der diözesanen Grabtuch-Gruppe seit Jahrzehnten vorsitzt, meint ganz fein, die Gläubigen sollten „einfach ihr Herz sprechen lassen“.

Und da drängen sie sich nun, vor diesem Stück Stoff, sehen – zu ihrer Überraschung deutlicher als auf allen Fotos – die Abdrücke eines Menschen, der offenbar genauso misshandelt und gekreuzigt worden ist wie der Jesus der Evangelien; sie sehen die Wunden an Händen und Füßen, durch die einst die Nägel getrieben worden sein sollen; sie sehen die blutverschmierten Haare des Hinterkopfs, auf dem anscheinend die Dornenkrone saß; sie sehen den Fleck in der Herzgegend, den Lanzenstich, aus dem laut Bibel „Blut und Wasser“ herausgeströmt sind.

„Drei Arten von Blut“, sagt Barberis, „sind in den Stoff gesickert. Arterielles, venöses – Blutgruppe AB, Rhesusfaktor negativ –, und das zersetzte Blut des Gestorbenen“. Das Serum sei mit den Augen unsichtbar. „Und weshalb sollte irgendein mittelalterlicher Maler mit Absicht etwas Unsichtbares auf das Tuch gemalt haben?“, fragen sich auch andere Wissenschaftler: „Er hätte bis zu den Untersuchungen des 20. Jahrhunderts, von denen er ja keine Ahnung haben konnte, keinerlei Effekt erzielt.“

Und überhaupt, sagt Barberis: Farbpigmente seien gar keine gefunden worden, um Malerei könne es sich also nicht handeln. Wie also der Abdruck auf das Tuch kam? Durch Oxydationsprozesse wohl, genauer wisse das bis heute kein Mensch. Die grausige Vorstellung, jemand im Mittelalter könne einen anderen „auf Jesus-Art“ gemartert haben, nur um eine gefälschte Reliquie zu produzieren, gilt unter Wissenschaftlern als abwegig. Und dass sich ein gewisser Kirchenthriller-Autor namens Dan Brown für das Leichentuch angemeldet hätte, ist in Turin nicht bekannt. Der Regisseur Mel Gibson, heißt es, wolle kommen – wenn man schon beim Inszenieren einer Passion sei.

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