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Der ukrainische Popstar Verka Serjutschka.

© mamamusic

Ukraine: Stern des Ostens

Andrij Danylko ist ein Mann und wurde in der Rolle einer vulgären Bahnschaffnerin zum Popstar. Bilanz: Millionen verkaufter Alben, ein Politskandal.

Ein Musikvideo mit Verka Serdjutschka geht in aller Regel so: Durch die Tür eines Restaurants tritt eine dicke, aufgeregte Frau mit greller Großtantenschminke und Brüsten wie Kamelhöckern, im Schlepptau eine ähnlich schrille Entourage. Ein hektischer Polkabeat setzt ein, aufgepeitscht von Stakkatobläsern, dann mischt die Chaosclique den Laden auf: Nach zehn Sekunden fließt der Wodka in Strömen, die Tische biegen sich unter ukrainischem Essen, Mädchen in knappen Folkloreblusen tanzen auf dem Büffet, die Kellner reißen sich die Krawatten vom Hals, und mittendrin singt die Bahnschaffnerin Verka Serdjutschka:

Wenn man uns sagt: „Euer Zug ist abgefahren“

Dann warten wir einfach auf den nächsten!

Und damit es am Bahnsteig nicht langweilig wird

Decken wir den Tisch und trinken auf die Liebe

Und alles wird gut!

Kiew, ein Tonstudio im Westen des Stadtzentrums. Andrij Danylko trägt Schwarz, wie meistens, wenn er gerade nicht Verka Serdjutschka ist, schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Pulli, schwarze Augenschatten. Er sieht deprimiert aus, obwohl er Witze reißt, er lacht, ohne zu lächeln, wie ein Clown außer Dienst, der sich mit der Schminke jede Spur von guter Laune aus dem Gesicht gewaschen hat. Hinter ihm, an der Wand, hängt ein Verka-Serdjutschka-Plakat. Auf dem Foto trägt Danylko einen neongelben Bademantel, dazu eine Glitzermütze, gekrönt von einem silbernen Sowjetstern. Schwer zu glauben, dass diese beiden Menschen wirklich ein und dieselbe Person sind, dass der schmale, introvertierte Enddreißiger auf dem Sofa in seinen Sternstunden der exzentrischste Popstar des Landes ist, zu dessen Musik bei jeder anständigen ukrainischen Hochzeit die Partygäste ausrasten.

Danylko war 17 Jahre alt, als er sich die Figur der vulgären, beschränkten, aber irgendwie liebenswerten Bahnschaffnerin Verka Serdjutschka ausdachte. Er lebte damals noch in seinem Geburtsort Poltawa, einer Industriestadt im Osten des Landes, wo die Menschen eher Russisch als Ukrainisch sprechen, oder wie Verka Serdjutschka das berüchtigte „Surschyk“, eine Mischform aus beiden Sprachen.

Die Schaffnerin war anfangs nur eine von vielen Rollen, in die Danylko auf der Bühne eines Provinztheaters schlüpfte, er führte Sketche auf, bei denen er Polizisten, Lehrerinnen, Rekruten oder Ballerinas mimte. Schwer zu sagen, warum es ausgerechnet die Schaffnerin war, die das Publikum regelmäßig zu Lachkrämpfen reizte und Danylko bald berühmt machte, nicht nur in der Ukraine, auch im benachbarten Russland. Vielleicht, weil sich das postsowjetische Chaos der 90er Jahre so gut im Zug abbilden ließ, weil jeder Bahnfahrer die Szenen kannte, die Danylko auf der Bühne karikierte: die verarmten Großmütter vom Land, die mit ihren Kartoffelsäcken und Hühnerkörben alle Gepäcknetze belegen, die aufstiegshungrigen Studentinnen, die sich in den Separees der Ersten Klasse was dazuverdienen, die betrunkenen Soldaten, die herrischen Schaffnerinnen, den Schwarzhandel mit Fahrkarten, die ukrainisch-russische Sprachverwirrung, die Grenzkontrollen an Grenzen, wo früher keine waren.

Verka Serdjutschka (die eigentlich Vera Serdjuk heißen müsste, beide Namensteile sind Verniedlichungsformen) wurde bald so berühmt, dass man ihr eine eigene Show im ukrainischen Fernsehen gab. „Seitdem arbeitet Verka nicht mehr für die Bahn“, sagt Danylko. „Als sie Moderatorin wurde, versteckte sie ihre Uniform im Schrank und fing an, sich wie ein Fernsehstar anzuziehen.“ Er sagt oft solche Sätze, wenn er über sein Alter Ego spricht, als führe Verka Serdjutschka ein Eigenleben, auf das Danylko keinen Einfluss hat. „Kaum war sie dann Moderatorin, wollte sie unbedingt auch noch Sängerin werden. Sie ist wirklich unersättlich.“

So also, auf Umwegen, fand Verka Serdjutschka zu ihrer heutigen, nicht unkomplexen Rolle: Sie ist eine ungehobelte Provinzlerin auf Erfolgskurs, die mit grotesk glamourösen Outfits ihre Herkunft überspielt – und dabei nicht merkt, dass das Publikum sie gerade wegen ihres bäuerlichen Charmes liebt. Man könnte auch sagen: Verka Serdjutschka ist ein bisschen wie die Ukraine. Sie hadert mit ihrer Rolle, ohne genau zu wissen, welche ihr besser liegen würde.

Nie hat Andrij Danylko diesen inneren Seelenkonflikt seines Landes so deutlich erfahren wie beim Eurovision Song Contest 2007, als sich beim nationalen Vorentscheid herauskristallisierte, dass die Ukraine mit Verka Serdjutschka ins Rennen gehen würde. Es war der bisherige Höhepunkt seiner Karriere – und gleichzeitig Danylkos schwierigstes Jahr. Längst war er zu diesem Zeitpunkt einer der erfolgreichsten Musiker des Landes, von seinen letzten beiden Alben hatte er rund drei Millionen Exemplare verkauft, einen Großteil davon in Russland, wo er regelmäßig vor ausverkauften Hallen sang. In beiden Ländern wurde er geliebt – und in beiden wandte man sich nun plötzlich gegen ihn.

„Erfolg“, sagt Danylko, „wird nicht verziehen.“

Es begann mit Protestkundgebungen in der Ukraine. „Schande!“, stand auf den Plakaten der Demonstranten, die nicht wahrhaben wollten, dass ihr Land beim Song Contest von einem Mann in Frauenkleidern vertreten werden sollte. Es war absurd: In der Ukraine wurde das Zwitterwesen Serdjutschka seit Jahren bejubelt, erst der Auftritt in Europa machte die Verkleidung zum Politikum.

Wenig später, kurz vor dem Song Contest, setzte ein russischer Journalist die Verschwörungstheorie in die Welt, Andrij Danylko habe den Text seines Eurovision-Beitrags „Dancing Lusha Tumbai“ mit russlandfeindlichen Parolen gespickt. Hinter der Refrainzeile „Lusha Tumbai!“ verberge sich in Wirklichkeit die Kampfansage „Russia Goodbye!“

„Absoluter Schwachsinn“, sagt Danylko bis heute. Doch der Vorwurf fand Gehör. Die Orangene Revolution lag noch nicht lange zurück, in Russland grollte man den Ukrainern wegen ihrer unerwarteten Westwende. So oft Danylko auch beteuerte, „Lusha Tumbai“ sei ein sinnfreier, rein lautmalerischer Vers, der sich lediglich an das mongolische Wort für „Milchshake“ anlehne – es nützte nichts. Das russische Staatsfernsehen interviewte einen mongolischen Diplomaten, der versicherte, seine Muttersprache kenne gar kein Wort für „Milchshake“. In den westeuropäischen Medien wurde der vermeintliche Politskandal genüsslich aufgegriffen. Daheim in der Ukraine verteilten derweil Ultranationalisten T-Shirts mit dem Aufdruck „Lusha Tumbai!“ Danylko stand im Zentrum eines internationalen Shitstorms.

Bis heute weiß er nicht, wer die Lawine losgetreten hat. Im Verdacht hat er den Ersten Kanal, jenen Fernsehsender, der in Russland die Eurovision-Kandidaten auswählt und 2007 mit der als Favorit gehandelten Girlband „Serebro“ ins Rennen ging. „Sie wollten mich als Konkurrenten ausschalten“, sagt Danylko. Im Mai trat er trotzdem in Helsinki auf. Sein silberner Sowjetstern glitzerte im Scheinwerferlicht, während er sang:

Hello everybody!

My name is Verka Serdjutschka!

Me English nix verstehn

Let’s speak DANCE!

Am Ende gewannen weder Russland, noch die Ukraine, sondern Serbien. Verka Serdjutschka landete auf Platz 2, gefolgt von „Serebro“ auf Platz 3. Danach dauerte es eine Weile, bis Danylko wieder problemlos in Russland auftreten konnte – nach dem Eurovision-Skandal wurde er von einzelnen Konzertveranstaltern jahrelang boykottiert. In der Ukraine dagegen war man so begeistert über den zweiten Platz, dass die Debatte über Danylkos Frauenkleider schlagartig verstummte. Verka Serdjutschka hatte dem Land keine Schande gebracht, sondern das zweitbeste Ergebnis der ukrainischen Eurovisions-Geschichte. „Als ich aus Helsinki zurückkam“, erinnert sich Danylko, „wurde ich hier empfangen wie Juri Gagarin.“

Trotzdem schweigt sich Danylko seit dem Song Contest noch etwas eiserner über sein Privatleben aus, als er es vorher schon tat. Dass er schwul ist, vermutet in der Ukraine jeder, aber niemand wird es ihn je sagen hören. „Es ist völlig egal, ob ich die Frage mit Ja oder Nein beantworte“, sagt er. „In beiden Fällen würden alle denken, dass das Gegenteil wahr ist. Besser, ich sage gar nichts. Sollen die Leute glauben, was sie wollen, egal ob sie mich für schwul, hetero, bi oder zoophil halten.“

Auch seine politischen Präferenzen verschweigt Danylko lieber – obwohl er kurz nach dem Eurovision-Erfolg eine Partei gegründet hat. Das aber ist wieder eine jener Geschichten, über die er nur in der dritten Person spricht, als sei es nicht seine Idee gewesen, sondern eine Marotte seiner Schaffnerin: „Es war der nächste logische Schritt, sie hatte ja sonst alles erreicht.“ Vor der Parlamentswahl im September 2007 registrierte Verka Serdjutschka die politische Partei „Gegen alle“. Bei den ersten Wahlkampfveranstaltungen wurde sie bejubelt. Dann traten eines Tages zwei breit gebaute Männer in dunklen Anzügen an Danylko heran. Sie führten ihn zum Kofferraum ihres Autos und zeigten ihm eine Reisetasche voller Geldscheine. Es waren zwei Millionen Dollar. „Gehört dir, wenn Verka Serdjutschka für unsere Partei antritt“, sagten die Männer.

Danylko erinnert sich an die Szene immer noch mit Gänsehaut. Das Geld hat er höflich abgelehnt. Am nächsten Tag führte er ein intensives Zwiegespräch mit seiner Schaffnerin, bei dem sich beide darauf einigten, künftig die Finger von der Politik zu lassen. Die Partei „Gegen alle“ zog ihre Kandidatur zurück.

Verka Serdjutschka arbeitet seitdem wieder als Sängerin. Sie hat versprochen, Danylko über ihre weiteren Karrierepläne auf dem Laufenden zu halten.

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