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© doris spiekermann-klaas

Kurz nach Zwölf: Mach hinne!

Den Schulabschluss in der Tasche und dann die große Freiheit? Wohl kaum, denn für viele wächst der Druck erst richtig, weil sie ihre Zukunft planen müssen

Am Ende geht alles ganz schnell und ist der Anfang von etwas Neuem. Die letzten Prüfungen sind dann vorbei. Nur noch wenige langweilige Stunden muss man aushalten, dann kann man die Abschlussfahrten und die Partys genießen. Der Sommer ist da.

Aber danach wird man ins kalte Becken geworfen: ins Leben als Erwachsener.

Es gibt keine richtige Verschnaufpause nach den letzen Abiprüfungen und dem Mittleren Schulabschluss. Was wird da kommen nach den Ferien? Das fragen sich in Berlin gerade alle, die dem Ende der Schule sehnsüchtig entgegensehen und sich auf die große Freiheit freuen, die sich dann als etwas komplett anderes entpuppt. Die Zeit der Prüfungen geht weiter. Nur heißt es dann nicht mehr so und richtig gut vorbereiten kann man sich irgendwie auch nicht. Das Ende der Schule steht gleichermaßen für das Erwachsenwerden wie für die Sinnsuche im Leben, entscheidend ist dabei die Frage: Was fange ich mit meinem Leben an? Und dagegen ist der Druck bei den Prüfungen wohl nichts.

Berlin hieß große Zukunft, endlich erwachsen werden

Jakob hat diese Zeit der Prüfungen schon länger hinter sich gelassen, aber dennoch ist er noch voll in der Selbstfindungsphase. Richtig erwachsen fühlt er sich nicht, es ist eher so als ob er noch zwischen den Stühlen sitzen würde. Jakob ist auf der Suche. Er kam vor zwei Jahren mit 19 Jahren nach Berlin. Heute feiert er seinen 21. Geburtstag. Er ist im Rheingau in Hessen in einem romantischen Städtchen am Rhein groß geworden. Seine Abiturnote war nicht schlecht, 2,3 holte er. Er wollte unbedingt nach Berlin, wie er sagt, um sich mit einem Etikett zu schmücken. Berlin hieß große Zukunft, endlich erwachsen werden, endlich raus von zu Hause zu sein. Er kam hierher, zog in eine WG mit seiner Berliner Kusine und hatte erst mal nichts zu tun, sondern erkundete die Stadt. Aber irgendwie immer mit einem schlechten Gewissen. Heute scheint er resigniert. „Ich bekam Geld von meiner Familie als Unterstützung und habe immer von grandiosen Plänen erzählt und ich weiß nicht, ob ich irgendetwas jemals davon vorhatte.“ Jakob wollte Schauspieler am Theater werden, machte erste Aufnahmeprüfungen an Hochschulen und verwarf diese Pläne dann wieder, obwohl ihm Talent attestiert wurde. „Meine Eltern haben nie Ansprüche an mich gestellt, ich habe auch heute völlig freie Wahl, aber leider auch überhaupt keine Ahnung, was ich mit meinnem Leben anfangen will.“ Er kommt sich genau deshalb wertlos vor. Der Druck von außen, etwas im Leben zu schaffen, jemand zu sein, zermürbt.

Nicht nur ihn. Das Gefühl gehört zum Weg nach der Schule dazu. Ständig umgibt eine diese Unsicherheit, ob man etwas kann?

Und dann muss man immer noch einen Ausbildungs- oder Studienplatz finden. Es gibt viele, die jobben, sich Jahre über Wasser halten, um Zeit für eine Entscheidung zu haben. „Du stellst jetzt die Weichen für dein Leben“, sagen einem Lehrer und Eltern gerne. Weichen ja, aber es ist nicht die Entscheidung, die das ganze Leben bestimmt. Oder etwa doch? Es ist ein Weg, den wir einschlagen. Mehr aber auch nicht.

Nach Frankreich? Oder doch besser nach Wien?

Jakob absolvierte ein Praktikum in einem Jugendtheaterprojekt, jobbte etwas und war doch die gesamte Zeit mit der Entscheidungsfindung beschäftigt. Welche Pläne hat er denn jetzt, nachdem sich die anderen in Luft auflösten? „Jeden Tag andere. Zurück nach Hessen gehen und arbeiten. Nach Frankreich ziehen und in Aix en Provence studieren. Oder in Wien oder Kiel.“ Pläne oder vielmehr Ideen hat er viele: Zeichnen lernen, Juwelier werden, nach Kapstadt, Fidschi oder Papua-Neuguinea gehen. All das schwirrt in seinem Kopf. Seine letzte Idee: mit einer Vespa am Schwarzen Meer entlangfahren, um zu reifen und endlich zu wissen, was er will. Das ist aber auch bloß so eine Idee.

Ist das nun nur naiv oder gibt es doch etwas Allgemeingültigeres an Jakobs Geschichte? Es ist der Druck, dem er sich nicht gewachsen fühlt. Klar kann er studieren, hat nicht nur die Perspektive einer Ausbildung, sondern kann als Abiturient am freiesten entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen wird. Jammern auf hohem Niveau. Aber dieses hohe Niveau, diese Wohlstandssorgen können zermürben. Er weiß, ihm könnte es eigentlich gut gehen, gäbe es da nicht diese Gedanken. „Es gibt diesen allgemeinen Anspruch, den man mit sich herumträgt und den man an sich und andere wie eine Schablone anlegt.“ Er sehnt sich nach einer Ruhe, um vielleicht mit 30 sagen zu können: „Ich muss nicht alles haben“.

Diese Ansprüche werden ja nicht nur von uns kreiiert, sondern schweben über uns: jung und erfolgreich sein. Man soll einen Abschluss mit 24 in der Tasche haben, drei Sprachen fließend sprechen können, Praktika absolviert sowie Jobs ausgeübt und am besten noch eine Teilnahme an einem Hilfsprojekt in Afrika im Lebenslauf stehen haben. Diese Masterpläne gibt es und es gibt sogar Leute, die das umsetzen und alle anderen fragen sich nur eines: Wie schaffen die das?

Die einen packen es an, die anderen schauen zu

Wir sind eine Generation, die im totalen Wohlstand aufgewachsen ist und dennoch leben wir nicht sorgenfrei. Der wirtschaftliche Druck und die Konkurrenz hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Es gab zu wenig Ausbildungsplätze, an den Universitäten zählen nur die besten Schulnoten und trotzdem gibt es dieses Gefühl von einem Überangebot, was man alles machen kann. Unzählig viele neue Ausbildungsberufe, Studiengänge und Auslandsaufenthalte wurden ins Leben gerufen. Entweder man ist dabei, kann sich das leisten und hat die Möglichkeit dazu oder man bleibt außen vor und hat das Gefühl diesen schleierhaften Ansprüchen nicht zu genügen. Wir sind eben eine Leistungsgesellschaft.

Und Jakob ist da Außenseiter, obwohl er sich ja nicht verweigert, sondern einfach aus einer Ohmacht zu keiner Entscheidung findet.

Wie ist das bei jemandem, der noch in der Schule steckt? Lara, 17, geht auf ein Charlottenburger Gymnasium und weiß im Gegensatz zu Jakob schon ziemlich genau, was sie will: „Nach dem Abitur werde ich Jura studieren und vielleicht vorher noch ein paar Monate im Ausland verbringen.“ Anders als Jakob, der auch zwei Jahre nach seinem Abitur immer noch sucht, hat Lara ihre Idee von einem Leben nach der Schule schon länger im Kopf. „Seit ein paar Jahren interessiert mich Jura sehr und ich habe mein Praktikum auch bei einem Anwalt gemacht.“

Der Druck hat sich erhöht

Lara nutzt ihre Möglichkeiten, weiß aber auch, dass sie viel geben muss: „Der Druck hat sich ziemlich erhöht. Ich lerne viel,die Schule ist anstrengend und ständig hat man Angst, die Noten reichen nicht für einen Studienplatz.“ Um dem Wartesemesterreigen zu entgehen, wird kräftig gepaukt. Die sagenumwobene Lockerheit der Schule kennen viele nicht mehr so recht, wenn sie an ihre Zukunft denken. Auch Lara weiß, dass es in einem Jahr nach ihrem Abitur keine richtige Verschnaufpause geben wird: Der Druck lässt eben nicht nach.

Die vielen Berliner Schüler, die in diesem Jahr die Schule verlassen, werden erst mal den Sommer genießen und feiern – klar. Dann beginnt – wie unsere Eltern immer sagen – der Ernst des Lebens.

Ric Graf

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