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„Menschen statt Helden.“ In Tunesien war die Politikerin und Unternehmerin als Tourismusministerin eine Art Popstar in der Übergangsregierung Jomaa.

© promo

Amel Karboul zieht Bilanz: "Die höchste Effizienz birgt die höchste Gefahr"

Amel Karboul war Ministerin in Tunesien und Unternehmensberaterin. In ihrem Buch "Coffin Corner" rechnet sie mit dem Management des 20. Jahrhunderts ab

Berlin - „Dort, wo ich aufgewachsen bin, konnte ich morgens nie sicher sein, ob wir mittags noch Strom haben, oder ob auch abends noch Wasser aus der Leitung fließt.“ So beginnt Amel Karboul ihr Buch „Coffin Corner – Warum auch die besten Firmen abstürzen können“. Amel Karboul, 42 Jahre alt, stammt aus Tunesien, hat in Heidelberg Deutsch gelernt und als Jahrgangsbeste in Karlsruhe ihr Maschinenbaustudium abgeschlossen. Danach hat sie eine Agentur für Change Management aufgebaut. Zu ihren Kunden zählen große internationale Firmen. 2014 wurde sie vom damaligen Übergangsregierungschef Mehdi Jomaa gefragt, ob sie für ein Jahr Tourismusministerin Tunesiens werden wolle – sie habe zwei Stunden Bedenkzeit. So lange hat Amel Karboul nicht gebraucht.

Nun hat sie eine Auszeit genommen und dieses Buch geschrieben, in dem sie ihre Erfahrungen reflektiert. Einschneidend waren vor allem ihre Erlebnisse als Ministerin, Managerin eines großen Apparats in einer eher konservativ geprägten, von Männern dominierten Welt. Karboul wertet diese Zeit als besonders wertvoll.

Das, was Amel Karboul eingangs beschreibt, würde den Mitteleuropäer schon um den Verstand bringen, keine gesicherte Versorgung mit Wasser und Strom. „Es kommt immer anders als du denkst. Und wenn die Ausnahme der Regelfall ist, dann ist das ja auch gar nicht schlimm ... diese Haltung bestimmt bis heute mein Denken und Handeln“, heißt es in ihrem Buch. In der westlich geprägten Welt ist das Unvorhergesehene die Ausnahme, denn das Leben im Westen läuft nach klar strukturierten Regeln und Plänen, besonders in der Wirtschaft. Umso größer dann die Überraschung, wenn Traditionsfirmen wie Loewe ins Straucheln kommen, weil sie das Potenzial des Flachbildschirms nicht erkannt haben oder – anderer Fall – der Aufstieg von Tesla unterschätzt wird. Karboul verweist darauf, dass den deutschen Ausstieg aus der Kernenergie auch kein Versorger auf dem Schirm gehabt hat. Ebenso wenig haben die Hauptstädte der Welt den Arabischen Frühling für möglich gehalten. „Ich glaube, dass so etwas derzeit einfach passiert, ist aus einer bestimmten Perspektive betrachtet – ganz normal.“

"Statt Helden brauchen wir Menschen"

In der westlich geprägten Welt der Wirtschaft herrsche noch immer das Prinzip „Wissen ist Macht“, Big Data und Businesspläne versuchen, die immer komplexer werdende Welt in den Griff zu bekommen. Dazu werden Controlling-Abteilungen ausgebaut, das Unternehmen richtet alles am Plan aus. Dann gehe es darum, Prozesse zu optimieren, Prozesshandbücher zu entwickeln, zu zertifizieren, alles Dinge, die auch Loewe und andere gefährdete Unternehmen vorzuweisen hatten. Es hat ihnen nichts genützt.

„Während Sie den Wettbewerber in Indien beobachten, wächst irgendein kleines Start-up in Indonesien rasend schnell auf Weltmarktgröße.“ Karboul warnt vor der großen Sammelwut von Big Data. „Je mehr Informationen Sie sammeln, desto schwieriger wird es zu bestimmen, welche davon relevant sind.“ Fazit: „Gerade dann, wenn Sie glauben, alles im Griff und unter Kontrolle zu haben, sind Sie in höchster Gefahr“, schreibt sie und bezieht sich auf die „Coffin Corner“, die Sargecke, einen Begriff aus der Luftfahrt, der genau dieses Dilemma beschreibt. Ein Flugzeug fliegt am schnellsten und effizientesten, wenn es möglichst hoch fliegt, Mindest- und Maximalgeschwindigkeit sind dann gleich. Die Fähigkeit, hier auf Unvorhergesehenes am Limit zu reagieren, ist sehr beschränkt, die geringste Abweichung kann zum Absturz führen, da nun Kräfte auf das Flugzeug von außen wirken, die die Crew nicht mehr beherrschen kann – so geschehen bei dem Absturz der Air France-Maschine 2009 über dem Atlantik. Die höchste Effizienz birgt die höchste Gefahr.

Karboul räumt mit dem Management des 20. Jahrhunderts auf, vergleicht die CEO's an der Spitze der Unternehmenspyramide mit John Wayne, einem einsamen Helden und Kämpfer, der immer Recht hat. „Je weiter einer oben in der Hierarchie sitzt, desto weniger hat er mit der Außenwelt zu tun. Dafür steigt seine Macht und die ihm entgegengebrachte Wertschätzung.“ Nach Karbouls Erfahrung wäre eine dynamischere Netzwerkstruktur sinnvoller. „Statt Helden brauchen wir Menschen.“ Und weniger Arroganz.

Das verlangt Entscheidungsfreude, Mut zum Risiko und damit Verletzbarkeit. Sie beschreibt die Reise mit einer französischen Delegation nach Indien, wo die Kunden dann feststellen mussten, dass die Inder schon viel weiter waren als sie selber – in ihrem Überlegenheitsdenken bis dahin unvorstellbar.

Schwäche zeigen macht stark

Auch Schwäche zu zeigen, macht in ihren Augen stark. Am ersten Tag im Parlament musste sie sich Rücktrittsforderungen wegen einer Israel-Reise in der Vergangenheit stellen. Unter Tränen hatte sie vor der entscheidenden Sitzung des Parlaments gesagt, dass sie, falls es nötig sein sollte, zurücktreten werde. Der Effekt der Interviews war überwältigend. Auf Facebook fand sie im Handumdrehen 180 000 Unterstützer, die forderten, dass sie im Amt bleiben solle. Ihre vermeintliche Schwäche wurde von den Bürgern als Stärke ausgelegt, weil sie sich als Mensch gezeigt hatte.

Amel Karboul lebt in zwei Welten, aus denen sie das Beste herausfiltert, um handlungsfähig zu bleiben. Die zahlreichen Beispiele, die sie anspricht, können Augen öffnen, nicht nur den CEO's, sondern auch ihren Angestellten. Das Buch ist lesenswert auch für Laien, die verstehen wollen, vor welchen Herausforderungen unsere Wirtschaft steht. Sie werden erfreut sein zu lesen, dass Amel Karboul den Menschen mit all seinen wertvollen Fähigkeiten in den Mittelpunkt künftiger Überlegungen stellt – der die Dienstflughöhe einhält und bei dem Effizienz und Handlungsspielraum sich in Einklang bringen lassen. Rolf Brockschmidt

Amel Karboul: Coffin Corner. Midas Verlag, Zürich 2015. 224 Seiten. 24,90 Euro.

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