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Missstände können von Arbeitnehmern angezeigt werden, entschied jetzt der EuGH im Falle eines Berliner Pflegeheims. Foto: p-a/dpa

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Wirtschaft: „Auch Schwache können mächtig sein“

Berliner Altenpflegerin bekommt Recht vor dem Europäischen Gerichtshof im Streit um ihre Kündigung

Berlin - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im französischen Straßburg hat Beschäftigten den Rücken gestärkt, die wegen interner Missstände öffentlich ihren Arbeitgeber kritisieren. Am Donnerstag wurde unter Vorsitz des Luxemburger Richters Dean Spielmann der Altenpflegerin Brigitte Heinisch Recht gegeben: Die 49-jährige Berlinerin ist demnach durch die Bundesrepublik Deutschland in ihrem Recht auf Meinungsfreiheit beschnitten worden – und zwar weil deutsche Gerichte zugunsten ihres früheren Arbeitgebers Vivantes geurteilt hatten. Die Berliner Klinikkette hatte Heinisch fristlos entlassen, nachdem sie ihren Arbeitgeber öffentlich kritisiert und schließlich angezeigt hatte. Das öffentliche Interesse an mangelhafter Altenpflege wiege höher, hieß es nun, als die Sorge des Arbeitgebers vor Rufschädigung. Die Richter sprachen Heinisch 15 000 Euro Entschädigung zu.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Bundesregierung hat drei Monate Zeit, um Einspruch einzulegen. Wird das Urteil bestätigt, ist es für deutsche Gerichte bindend. Der Fall könnte hierzulande vor dem Arbeitsgericht neu aufgerollt werden. „Wir streben ein Wiederaufnahmeverfahren gegen Vivantes an“, sagte der Anwalt von Heinisch, Benedikt Hopmann, in Berlin.

Die Pflegerin war bis 2005 in einem Vivantes-Altenheim beschäftigt und hatte Mängel bei der Patientenversorgung kritisiert. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen stellte in dem Haus in Reinickendorf 2003 unter anderen wegen fehlenden Personals Verstöße fest. Heinisch zeigte Vivantes wegen Betruges an, schließlich würde die versprochene und bezahlte Pflege nicht erbracht. Anfang 2005 wurde Heinisch entlassen. Zuletzt hatte das Bundesarbeitsgericht die Kündigung bestätigt, das Bundesverfassungsgericht hatte die Beschwerde der Pflegerin nicht angenommen.

Anwalt Hopmann wandte sich daraufhin an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. „Der Sieg zeigt, dass auch Schwache mächtig sein können und sollte andere Arbeitnehmer ermutigen, sich zu wehren“, sagte Hopmann. Seine Mandantin habe viel Mut bewiesen. Allerdings sei Heinisch während des jahrelangen Streits mit Vivantes und den deutschen Gerichten einer großen Belastung ausgesetzt gewesen, inzwischen bezieht sie krankheitsbedingt eine Frührente. Die gekündigte Altenpflegerin verlangt nun eine Entschuldigung. „Der Gerechtigkeit ist nicht genüge getan, ich habe gelitten und meine Arbeit verloren“, sagte sie.

Eine Sprecherin des Gesundheitskonzerns äußerte sich nicht zu dem Fall. Klinikintern ist bekannt, dass in einzelnen Pflegeheimen des seinerzeit finanziell angeschlagenen Landesunternehmens Missstände herrschten. Die Zustände hätten sich inzwischen verbessert. Anwalt Hopmann hatte zuletzt erfolgreich eine als „Emmely“ bekannt gewordene Kassiererin verteidigt, die von der Supermarkt-Kette Kaiser’s wegen eines 1,30- Euro-Pfandbons gekündigt wurde. Die Entlassung hatte bundesweit Proteste ausgelöst, das Bundesarbeitsgericht entschied im vergangenen Jahr zugunsten Emmelys.

Die Gewerkschaft Verdi hatte Pflegerin Heinisch bei ihrer Klage unterstützt. „Jetzt können sich Beschäftigte endlich ohne Angst vor Kündigung an die Strafverfolgungsbehörden wenden, wenn sie gravierende Missstände in ihren Unternehmen feststellen“, teilte der Verdi-Vorstand mit. Der Beschäftigte verletze nun nicht mehr seine Loyalitätspflichten, denn etwa Gammelfleisch oder unterversorgte Patienten gehörten nicht zu schützenswerten Betriebsgeheimnissen. Der frühere Richter und heutige Linken-Politiker, Wolfgang Neskovic, begrüßte das Urteil. Es sei nötig, „dass auch der deutsche Gesetzgeber – insbesondere arbeitsrechtlich – Menschen schützt, die die Zivilcourage und den Mut aufbringen, Missstände anzuprangern“.

Die Straßburger Entscheidung gilt als Stärkung für sogenannte Whistleblower, also Arbeitnehmer die Gefahren innerhalb ihres Unternehmens bekannt machen und dadurch ihre Anstellung riskieren. Immer wieder wurde ein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern gefordert. Die SPD-Arbeitsmarktexpertin Anette Kramme kündigte für diesen Herbst einen entsprechenen Entwurf an.

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