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Es fehlen Lehrer.

© picture alliance / dpa

Das Abitur nachholen: Zurück an die Tafel

Nach der Arbeit in den Unterricht: Wer als Berufstätiger Abitur in der Abendschule macht, muss sich die Zeit gut einteilen.

Jedes Jahr kurz vor den Sommerferien ist es wieder soweit: Manon Ziemann steht auf einer Bühne vor vielen Schülern und spricht über Leistung in der Schule. Seit 15 Jahren ist die Projektmanagerin beim Arabischen Kulturinstitut AKI, einem Verein zur Integrationsförderung, dafür zuständig, die besten Schüler des Neuköllner Rollberg-Viertels auszuzeichnen. „Rollberger Superschüler" heißt das Programm, zu dem es jedes Jahr eine Festveranstaltung gibt. 2011 kam der damals 36-Jährigen da oben auf der Bühne plötzlich ein Gedanke: „Wie schön wäre es, selbst noch einmal zur Schule zu gehen.“ Als Schülerin hatte sie gut und gerne gelernt – und doch nach der 10. Klasse die Schule verlassen. Sie lebte damals in Brandenburg und um sie herum brach gerade die Arbeitslosenwelle der Wendezeit los. Sie habe niemandem auf der Tasche liegen wollen, und deshalb erst mal eine Ausbildung gemacht, sagt Manon Ziemann. Aber da war immer dieser Gedanke: „Nach der Ausbildung zur Kauffrau im Groß- und Außenhandel hole ich bald das Abi nach.“ Statt diesen Plan weiter zu verfolgen, begann sie jedoch beim Arabischen Kulturinstitut als Projektmanagerin und Koordinatorin zu arbeiten. Erst 20 Jahre später, im Sommer 2011, griff sie den Plan wieder auf und meldete sich an der Abendschule an, um doch noch Abitur zu machen.

Es gibt viele Angebote

Es gibt viele Angebote für Erwachsene, die das Abitur nachholen wollen: staatliche Kollegs, private Lernanbieter, auch eine alternative selbst-organisierte Schule in Kreuzberg. Wer aber berufstätig ist und deshalb nur am Abend Zeit hat zu lernen, für den sind die Optionen überschaubar. Fernstudien bereiten flexibel von Ort und Zeit auf das Abitur vor, erfordern aber über einen Zeitraum von drei Jahren absolut selbstständiges Lernen, mehrere Stunden jeden Abend lang. Wer sich wie Manon Ziemann sozialen Austausch wünscht, um gemeinsam das Ziel Abitur zu erreichen, für den gibt es in Berlin Abendgymnasien und Abendschulen mit beruflichem Profil. Hier können sich Berufstätige ab 19 Jahren von Montag bis Freitag Abend für Abend auf ihr Abitur vorbereiten. Pflegefachkräfte, Kellner, Gärtner, Taxifahrer und Justizbeamte – sie alle lernen hier nach der Arbeit Mathe, Englisch, Geschichte oder Biologie. Drei bis vier Stunden jeden Abend, drei bis vier Jahre lang.

„Vier Jahre! Wenn ich abschließe, bin ich 40. Oh Gott, oh Gott, oh Gott“, war Manon Ziemanns erster Gedanke, als sie sich mit 36 über die verschiedenen Einstiegsmöglichkeiten an der Peter-A.-Silbermann-Schule in Wilmersdorf informierte. Dank ihres Abschlusses hätte sie eigentlich gleich mit der 11. Klasse beginnen können, entschied sich aber, noch ein Jahr den Vorkurs zu machen, dem das Einstiegsjahr und die beiden Jahre in der Qualifikationsphase folgen. „Um in den Stoff wieder hineinzukommen“, sagt Ziemann. Sie wollte die Grundlagen in Mathematik auffrischen, auch die neue deutsche Rechtschreibung gab es bei ihr damals im Unterricht ja noch nicht.

Die Reaktionen auf ihren Entschluss fielen sehr unterschiedlich aus: Arbeitgeber und Geschäftspartner reagierten sehr positiv, ihr privates Umfeld machte sich eher Sorgen. Sie arbeite schon so viel, wie wolle sie das alles schaffen? Und ob sie denn auch auf ihre Gesundheit achte? „Da setzte die Trotzphase ein“, sagt Ziemann. Jetzt wollte sie erst recht.

Im Privatleben muss viel umorganisiert werden

Mittlerweile ist sie im vierten und letzten Jahr. Im Frühling 2015 hat sie ihre Prüfungen. Es sei kein leichter Weg gewesen, sagt sie: „Im Privatleben muss vieles umorganisiert werden.“ Vor allem das Sozialleben leide. Manche Freundschaften liegen Brach, weil man nur noch am Wochenende Zeit hat und dann auch nicht immer. Ziemanns Gymnasium, die Peter-A.-Silbermann-Schule in Wilmersdorf, achtet zwar darauf, das Gros der Aufgaben in die Präsenzzeiten im Unterricht zu legen. Trotzdem gibt manchmal Hausaufgaben. Die sind dann am Wochenende dran. Dann muss sie auch für die anstehenden Klausuren lernen. Abends noch mal schnell in den Supermarkt – dafür ist keine Zeit mehr. Auch das wird aufs Wochenende verschoben. Ziemann ist zur Zeit Single und hat keine Kinder. Sie kennt aber auch Alleinerziehende, die mit ihr gemeinsam Abi machen. Bei einem derart engen Tagesplan, wie ihn die meisten Abendschüler haben, sind auch die Fahrtzeiten ein Faktor: Manon Ziemann wäre gern auf das Abendgymnasium in Prenzlauer Berg gegangen, weil dort Russisch angeboten wird. Die Sprache hat sie sechs Jahre lang gelernt. Dann hätte sie aber viel mehr Zeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln verbringen müssen. Manche ihrer Mitschüler pendeln aber auch eine Stunde oder sie fahren vom Frühdienst nach Hause und dann nochmal zum Unterricht. „Das ist dann ein sehr langer Tag“, sagt Ziemann.

Trotz allem genießt sie das Schüler-Dasein. Sie versucht, die Schule als Hobby zu sehen – auch um sich nicht zu viel Druck zu machen. Sie gehe eben in den Unterricht, wenn andere Berufstätige ins Fitnesscenter gingen. Manchmal macht sie mit der Schule Exkursionen: Im Geschichtsunterricht besuchte sie zum Beispie den Bendlerblock – das Zentrum des militärischen Widerstands im Nationalsozialismus. Mit dem Biologiekurs ruderte sie auf dem Schlachtensee, um ökologische Proben zu nehmen. Teilweise fallen solche Exkursionen auch ins Wochenende, dafür entfalle dann die entsprechende Stunde während der Woche. Ziemann hat extra Module in Astronomie und Philosophie belegt und im Vorkurs auch Französisch mitgenommen. Private Sprachkurse sind teuer, meint sie. Am Gymnasium lernt sie hingegen kostenlos.

In Geschichte haben viele schon einige Kapitel miterlebt

Der Wunsch das Abi nachzumachen ist aber auch bei Ziemann beruflich motiviert. „In der Geschäftsleitung haben alle Abitur“, sagt Ziemann. „Da will ich auch dazugehören“. Gerne würde sie auch ihre Arbeit als Projektmanagerin durch einen anschließenden Studiengang „theoretisch unterfüttern“. Doch die passenden Studiengänge, die sie bis jetzt gefunden hat, sind entweder in Vollzeit oder sehr teuer. Auch ein naturwissenschaftliches Studium würde sie inhaltlich sehr interessieren, hier gebe es sogar ein Teilzeitstudium in Potsdam. Aber das würde eine komplette berufliche Umorientierung bedeuten und Ziemann mag ihre Arbeit.

Dass sie am Abendgymnasium ihre Allgemeinbildung erweitert, nützt schon jetzt für die Arbeit: Etwa wenn sie interkulturelle Lesungen und Literaturabende organisiert und nun durch den Deutschunterricht weiß, wie man Prosa und Lyrik analysiert und neue Autoren entdeckt. Auch manchen Schülern, die in ihrer Arbeit Praktika machen, kann sie helfen. Wenn die Jugendlichen gerade kämpfen, erzählt sie, wie sie das mit der Schule so macht – und dass es für das Abi nie zu spät ist. Vokabeln zu lernen fällt Ziemann heute zwar schwerer als in Teenie-Zeiten. Insgesamt helfe ihr aber die Lebenserfahrung die neuen Inhalte besser einzuordnen. Dadurch bleibt auch vieles besser hängen. In Politischer Bildung oder in Geschichte hat sie ein paar Kapitel schon miterlebt. Aber auch bei den Themen Ökologie und Evolution, mit denen sie sich schon vor dem Abendgymnasium gerne beschäftigte.

Ziemann hat die Unterstützung ihres Arbeitgebers: Die Atmosphäre im Büro ist familiär, sie kann sich auch mal an einem Prüfungstag frei nehmen oder am Mittag zwischendurch eine kleine Aufgabe am Computer erledigen. Dennoch hat sie gelernt, „dass man nicht immer überall 100 Prozent geben kann“: Mal müsse sie privat, mal in der Schule, mal bei der Arbeit Abstriche machen.

Es gibt Wochenenden, an denen sie eigentlich lernen will, das aber nicht schafft, weil sie erst mal regenerieren muss. Und es gibt Phasen, in denen sie wegen Arbeit oder Krankheit zwei Wochen nicht in der Schule war und sich fragt, ob sie das je alles aufholen kann. Bis jetzt hat sie es aber noch jedes Mal geschafft: auch mit der Hilfe der anderen in der Klasse oder dank der Lehrer, die Unterlagen online zur Verfügung stellen.

Über einen naturwissenschaftlichen Teilzeit-Studiengang in Potsdam und Abendstudiengänge hat sich Ziemann schon informiert. Schon im März steht die erste Teilprüfung für das Abi an. Ziemanns Präsentations-Thema: Der Seefahrer und Entdecker James Cook und welche Rolle die Bekämpfung der Vitaminmangelkrankheit Skorbut für die britische Marine spielte. Sie wollte schon längst damit begonnen haben, gesteht Ziemann. Jetzt ist es eben ihr Weihnachtsprogramm.

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