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Israel ist für seine Start-Up Kultur bekannt.

© Municipality of Tel Aviv

Schlechte Schulbildung und Abwanderung: Der Start-up-Nation Israel könnte bald das Personal ausgehen

Der High-Tech-Sektor des Landes wird weltweit bewundert. Doch Ökonomen sind besorgt. Denn der globale Wettbewerb um Fachkräfte macht dem Land zu schaffen.

Auf den ersten Blick scheint Israels Wirtschaft vor Vitalität zu strotzen. Obwohl er nur 0,01 Prozent der Weltbevölkerung beherbergt, lockt der Neun-Millionen-Staat Israel fast ein Fünftel der globalen Investitionen in Cybersicherheit an. Sein High-Tech-Sektor wird weltweit bewundert für den Einfallsreichtum seiner Gründer und die Brillanz seiner Ingenieure. Manche Beobachter sorgen sich dennoch um seine Zukunft: Der Start-up-Nation, fürchten sie, droht das Personal auszugehen.

Schlechte Ergebnisse im Pisa-Test

Der eindringlichste Warner heißt Dan Ben David, er ist Ökonom an der Universität Tel Aviv und Gründer des Wirtschaftsforschungsinstituts „Schoresch“ (Wurzel). „Der Kurs des Landes ist nicht zukunftsfähig“, sagt er im Skype-Gespräch aus den USA, wo er derzeit Vorträge hält. Die größten Sorgen bereiten ihm zwei Faktoren: Israels Schulen und die demografische Entwicklung. Israel mag Universitäten von Weltrang haben, doch seine Schüler erreichen im Pisa-Test nicht einmal den OECD-Durchschnitt.

Besonders schlecht schneidet die arabische Minderheit ab, ein Fünftel der Bevölkerung. Und ultraorthodoxe Jungen, die auf ihren religiösen Schulen kaum säkulare Inhalte lernen, nehmen an der Studie nicht einmal teil. Die Ultraorthodoxen machen gut ein Zehntel der Bevölkerung aus, stellen wegen ihrer hohen Geburtenrate jedoch fast zwanzig Prozent der Schüler - ein Fünftel der erwachsenen Israelis von morgen. „Wo sollen in Zukunft die Ingenieure, Ärzte, Architekten herkommen?“, fragt Ben David.

Der Fachkräftemangel bedroht das Wirtschaftswachstum

Schon jetzt fehlen der High-Tech-Industrie laut der israelischen Innovationsbehörde, die dem Wirtschaftsministerium untersteht, rund 15.000 Ingenieure und Softwareentwickler. „Der Tech-Sektor ist der wichtigste potenzielle Wachstumsmotor der israelischen Wirtschaft in der nächsten Dekade“, schreibt Eugene Kandel, Ökonom und Direktor der Nichtregierungsorganisation „Start-up Nation Central“. Der Fachkräftemangel drohe dieses Wachstum zu bremsen. „Es ist eine Herausforderung, qualifiziertes Personal zu finden“, bestätigt Ayelet Ilan, die die Personalsuche bei Via Transportation verantwortet, einem 2012 gegründeten Start-up, deren Ride-Sharing-App in über hundert Städten weltweit genutzt wird. „Wir konkurrieren mit großen Firmen wie Amazon und Google.“ Um die besten Softwareingenieure anzulocken, reichen gute Gehälter nicht; die Firma wirbt deshalb mit einem „großartigen Arbeitsumfeld“, professioneller Weiterentwicklung und der Chance, „einen echten Unterschied zu machen“.

Erschwerend hinzu kommt, dass ausgerechnet unter den raren Tech-Fachkräften die Abwanderungsrate gen USA höher ist als in jeder andere Bevölkerungsgruppe, wie Ben David ermittelt hat. Die demografische Entwicklung, fürchtet er, könnte diesen Brain Drain beschleunigen - weil sie einem schrumpfenden Anteil von Spitzenkräften eine immer höhere Steuerlast auferlegt. Im Jahr 2059 dürften israelische Araber und jüdische Orthodoxe - sogenannte Haredim - die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Auch Israels Zentralbank fordert deshalb Reformen des Schulsystems. „Obwohl Israel die Start-up-Nation ist“, warnte ihr Direktor Amir Yaron vor wenigen Monaten auf einer Konferenz, „fehlen den meisten israelischen Beschäftigten die Fähigkeiten, grundlegendere Probleme zu lösen“.

Die Politik hat das Problem erkannt

Nicht alle sehen die Lage so dramatisch. Die arabischen Schulen hätten sich in den letzten Jahren verbessert, sagt der Bildungsforscher Nachum Blass vom Taub-Center, einem Forschungsinstitut. Und im ultraorthodoxen Sektor gebe es eine Bewegung hin zu mehr säkularer Bildung. „Doch es bleibt noch viel zu tun“, bestätigt Blass.

Das hat auch die Politik erkannt. Das Bildungsministerium hat seine Ausgaben pro Schüler in den letzten Jahren erheblich angehoben, wie eine Sprecherin mitteilt, insbesondere im arabischen Sektor. Ein Komitee prüft das schlechte Abschneiden arabischer Schüler im Pisa-Test; mit ultraorthodoxen Schulvertretern arbeitet das Ministerium daran, den Anteil säkularer Lehrinhalte zu erhöhen. Zudem fördert die Regierung eine ganze Reihe von Initiativen, Projekten und Stipendien, die Ultraorthodoxe und Araber für High-Tech-Jobs fitmachen sollen. Und Start-up-Inkubatoren in Haifa, Nazareth und Jerusalem fördern speziell arabische oder ultraorthodoxe Gründer. Ohne Zweifel, es bewegt sich etwas. Die Frage ist nur, ob es schnell genug geht.

Der Ökonom Dan Ben David hofft auf eine Koalition der großen säkularen Parteien nach den Wahlen im März. Eine solche Regierung könnte seine drängendste Forderung umsetzen: einen verbindlichen Lehrplan für ultraorthodoxe Schulen, der den Anforderungen einer modernen Wirtschaft entspricht. „Reformen, die heute schwer sind, werden morgen unmöglich sein“, warnt er mit Blick auf die demografische Entwicklung. Am Ende eines Gesprächs voller düsterer Prognosen erweist er sich jedoch als Optimist. „Wenn wir Israelis mit dem Rücken zur Wand stehen, dann tun wir das Richtige“, glaubt er. „Wir haben Erfahrung damit, Wunder zu bewirken. Israel ist selbst ein modernes Wunder. Wir müssen uns nur zusammenreißen, um dieses Wunder zu retten.“

Mareike Enghusen

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