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Wie (un)gesund ist das? Künftig sollen Verbraucher auf einen Blick erkennen können, ob sie ein Lebensmittel kaufen sollen oder besser nicht.

© imago/Jochen Tack

Gesunde Ernährung: Deutschland sucht das Nährwertlogo

Bis September stimmen die Bürger darüber ab, wie Fette, Salz, Zucker und Kalorien künftig auf Lebensmitteln gekennzeichnet werden. Worum geht es eigentlich?

Wenn Sie demnächst in der Fußgängerzone unterwegs sind, könnte es sein, dass Ihnen Menschen auf der Straße merkwürdige Schaubilder vor die Nase halten und Sie nach Ihrer Meinung fragen. Ob Sie eine farbige Skala mit Buchstaben besser finden als ein Schlüsselloch, einen Aufdruck mit fünf Kreisen oder petrolfarbene Waben. Wer dann aber meint, versehentlich in eine „Verstehen-Sie-Spaß“-Sendung geraten zu sein, irrt: Die Straßenumfrage, die im August deutschlandweit startet, ist ernst und hat auch ernsthafte Konsequenzen. Denn die Bürger sollen darüber entscheiden, wie die Nährwertkennzeichnung in Deutschland künftig aussehen soll. Gesucht wird das beste System, um den Verbrauchern auf einen Blick an der Ladentheke klar zu machen, ob ein Produkt gesund ist oder ob es zu viel Salz, Fett und Zucker enthält.

Problem Übergewicht: Auch junge Menschen sind betroffen.

© mauritius images / Science Photo Library

In Deutschland sind 47 Prozent der Frauen, 62 Prozent der Männer und 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig. Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) will das ändern. Sie hofft zum einen auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen, mit denen die Lebensmittelwirtschaft gesündere Rezepturen einführen will. So sollen bis zum Jahr 2025 Frühstückscerealien 20 Prozent weniger Zucker enthalten, Erfrischungsgetränke wie Limonaden 15 Prozent weniger. Zucker und andere Süßungsmittel in Baby- und Kindertees will Klöckner per Verordnung verbieten.

Ergänzt werden soll diese Reduktionsstrategie durch eine bessere Nährwertkennzeichnung. Zwar müssen die Lebensmittelhersteller seit 2016 auf vorverpackten Nahrungsmitteln darüber informieren, wie viele Kalorien, Fette, Zucker oder Eiweiße die Produkte enthalten. Das steht in Tabellen auf der Packungsrückseite. Diese sind aber oft klein gedruckt und für Laien schwer zu lesen. Konsequenz: Die meisten ignorieren sie. „Wir brauchen eine einfache, klare Kennzeichnung“, sagt Ursula Schulte, die ernährungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. „Sie muss auch Menschen erreichen, die sich bisher nicht viel mit Ernährungsfragen beschäftigen.“

Nährwerttabelle: Ist vorgeschrieben, liest aber kaum jemand.

© Doris Spiekermann-Klaas

Und ginge es nach der SPD, wäre auch klar, wie dieses System aussieht. „Die SPD-Fraktion würde am liebsten sofort den Nutri Score einführen“, berichtet Schulte. Er sei das beste Modell, sei zudem wissenschaftlich erprobt und wäre quasi die europäische Lösung. Denn Frankreich hat den Nutri Score bereits, Belgien, Spanien, Portugal und Luxemburg wollen ihn einführen. Der Vorteil des Modells ist zugleich der Grund, weshalb ihn die Lebensmittelwirtschaft ablehnt. Der Nutri Score stellt nämlich Nachteile (viel Zucker, Salz, Fett) und Vorteile (Ballaststoffe, gute Inhaltsstoffe) eines Lebensmittels gegenüber und kommt am Ende zu einer Gesamtbewertung.

Auf einer Skala von A (gut) bis E (schlecht) kann man ablesen, ob man das Müsli, den Jogurt oder die Fertiglasagne kaufen soll oder besser nicht. Der Nutri Score erleichtert zudem den Vergleich von verschiedenen Produkten einer Warengruppe, wie die Verbraucherzentrale Hamburg kürzlich in einem Test ermittelt hat. Die Schokocreme von Nutella landete etwa im tiefroten Bereich E, die „Bio-Haselnusscreme“ war dagegen eine Stufe besser und schaffte wenigstens ein D.

Der Nutri Score: Er stellt Vor- und Nachteile eines Produkts gegenüber und kommt zu einem Gesamtergebnis.

© Tagesspiegel

Der Nutri Score hat viele Unterstützer. Verbraucherschützer finden ihn gut, Berlins Verbraucherschutzsenator Dirk Behrendt (Grüne) will ihn einführen, aber auch immer mehr Unternehmen freunden sich mit der bunten Skala an. Danone druckt den Nutri Score bereits auf einige Produkte, die Tiefkühlwirtschaft hat sich in der vergangenen Woche für die Einführung des französischen Modells ausgesprochen. Iglo würde das System gern verwenden, wenn dem Unternehmen das nicht per gerichtlicher Verfügung untersagt worden wäre – und auch Nestle will den Nutri Score benutzen, wenn der Weg dafür gesetzlich frei ist. Der Großteil der Lebensmittelhersteller steht dem Nutri Score dagegen ablehnend gegenüber. Sie befürchten, dass bestimmte Lebensmittel als „böse“ verdammt werden. Eine ausgewogene Ernährung erreicht man aber am besten durch eine abwechslungsreiche Ernährung, meint der Lebensmittelverband Deutschland. Die Wirtschaft tritt daher mit einem eigenen Kennzeichnungssystem an, das Nährwertangaben in Kreise packt. Verbraucherschützer halten das Modell für unübersichtlich. Gleiches gilt für den Vorschlag des Max Rubner-Instituts, das kürzlich auf Wunsch von Agrarministerin Klöckner ebenfalls ein Kennzeichnungsmodell aus dem Hut gezaubert hatte.

Das skandinavische Keyhole-Modell: Es zeichnet besonders gute Produkte aus.

© Tagesspiegel

Diese vier Kandidaten stehen zur Wahl. Eine Verbraucherbeteiligung ist nötig, heißt es im Agrarministerium, weil eine nationale Nährwertkennzeichnung sonst nicht mit EU-Recht vereinbar wäre. Klöckner hat bereits betont, dass das Ergebnis der Abstimmung für sie maßgeblich sein soll. Auch die SPD will das Votum mittragen, selbst wenn sich die Verbraucher für ein anderes Modell als den Nutri Score entscheiden sollten. Ende September soll die Auswertung vorliegen.

Bis dahin wird geforscht. Im Juli soll es Diskussionsrunden mit zehn sogenannten Fokus-Gruppen geben, in zwei der zehn Gruppen sollen Menschen mit ernährungsbedingten Erkrankungen wie etwa Diabetes vertreten sein. Diese Runden sollen Aufschluss darüber bringen, was die Menschen von einer Nährwertkennzeichnung erwarten. Zudem erfolgt in den Gruppen eine erste Abstimmung über die Konkurrenzmodelle. Im August und September folgen Straßenumfragen, computerassistierte Telefoninterviews und Webinterviews. Es sollen 1600 Bürger befragt werden. Lebensmittelwirtschaft und Verbraucherverbände tragen das Verfahren mit, auch wenn es hinter vorgehaltener Hand Kritik gibt. „Viele Bürger sind mit der Befragung überfordert“, befürchtet eine Verbraucherschützerin. Das Rätselraten am Supermarktregal, glaubt sie, setzt sich bei der Befragung fort.

Das Wissenschaftsmodell: Das Modell des staatlichen Max-Rubner-Instituts nennt den Anteil von Fett, gesättigten Fettsäuren, Salz, Zucker und Kilokalorien pro 100 Gramm und gibt mithilfe der Sterne und der farbigen Waben eine Gesamtempfehlung.

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Das Modell der Lebensmittelwirtschaft: Das System beschreibt den Anteil von Fett, gesättigten Fettsäuren, Zucker, Salz und Kilokalorien gemessen an der Tagesdosis für Erwachsene und pro 100 Gramm.

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