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Gasstreit: Eine Frage des Preises

Es ist eine Farce - aber eine mit weitreichenden Folgen: Aus dem Streit zwischen Russland und der Ukraine um Gas ist längst ein europäisches Problem geworden.

Es begann als Ritual. Die Ukraine und Russland streiten um Gas - na und? Das tun sie schließlich jedes Jahr. Doch mit dem totalen Lieferstopp Russlands und den unmittelbaren wie mittelbaren Folgen für mehrere europäische Länder hat der diesjährige Zwist nach Ansicht vieler Beobachter eine neue Dimension bekommen.

"Dieser Konflikt hat Westeuropa die Augen geöffnet", sagt etwa die lettische Politikerin Sandra Kalniete, die als Außenministerin ihr Land 2004 in die EU führte. Sie spricht von einem "Dominoeffekt", der nun auch Deutschland und Frankreich klarmache, dass die Energieversorgung in Europa dringend stärker diversifiziert, also auf mehrere Energieträger verteilt werden müsse - und zudem eine solidarischere Komponente brauche. Eine Art Dominoeffekt lässt sich tatsächlich in mehreren europäischen Staaten nachweisen. Er besteht zum einen in der unmittelbaren Folge des Lieferstopps. Auf einmal benötigten Länder wie Serbien, Bosnien oder Bulgarien dringend Gas aus anderen Quellen - und begannen sich gegenseitig zu helfen: Serben lieferten Gas an bosnische Muslime, Moldawier halfen abtrünnigen Transnistriern. Bulgarien kündigte an, mit Hilfe der EU mehr Gasspeicher zu bauen und mittels neuer Pipelines ins Nachbarland Rumänien und in die Türkei seine Abhängigkeit von russischem Gas zukünftig zu verringern.

Zum anderen sorgt das fehlende Gas für ein ganz neues Drohpotenzial aus Osteuropa: eine mögliche Renaissance der Atomkraft. Angesichts der unsicheren Versorgungslage droht die Slowakei damit, den erst zu Silvester abgeschalteten Reaktorblock Jaslovske Bohunice wieder anzufahren. Seit Tagen herrscht in dem Land Energie-Notstand, 1000 größere Unternehmen werden nicht mehr mit Gas beliefert - zwei Autowerke und ein Stahlwerk mussten den Betrieb einstellen. Auch Litauen erwägt, sein Atomkraftwerk Ignalina wieder anzufahren, Bulgarien seinen unsicheren Reaktor Kosloduj. Ein Wiederanfahren der alten Sowjet- Kraftwerke würde klar gegen EU-Recht verstoßen. "Die Regierenden in Osteuropa wissen das ganz genau", sagt ein EU-Diplomat. In Brüssel sieht man in den Atomdrohungen eher ein "taktisches Moment", um die westeuropäische Öffentlichkeit auf die drohenden Folgen einer zu starken Abhängigkeit durch russisches Gas hinzuweisen.

Das sieht auch Sandra Kalniete so. "Russland wird seine dominierende Rolle als Energieversorger in Europa verlieren müssen", sagt die Ex-Außenministerin. Langfristig sieht sie Moskau als Verlierer im aktuellen Energiepoker - und den Ruf Russlands in ganz Europa beschädigt. "Den Georgienkrieg vor einem halben Jahr nahmen viele in Europa nicht ernst, Georgiens Präsident Michail Saakaschwili wurde als Verrückter angesehen und die Interessen Moskaus in seiner Einflusssphäre als berechtigt." Die Diskussion um den Krieg sei zudem eine "Expertendebatte" gewesen, sagt Kalniete - ganz anders als der aktuelle Streit. "Der betrifft die Leute ganz unmittelbar - und die Solidarität in Europa. Keinem EU-Bürger kann es egal sein, wenn in einem Mitgliedsland wie Bulgarien Kinder in Schulen oder Patienten in Krankenhäusern frieren müssen."

Im ganz konkreten Streit geht es derweil nur millimeterweise voran. Vor allem wegen der umstrittenen Entnahme "technischen Gases" durch die Ukraine - Gas, das zur Druckverdichtung in den Pumpstationen benötigt wird - kam es am Dienstag zu Verzögerungen beim Gasdurchfluss. Experten gehen zwar davon aus, dass russisches Gas bald wieder durch ukrainische Leitungen West- und Südosteuropa erreichen wird. Die eigentlichen Probleme aber bleiben: der Vertragsstreit um den Marktpreis des Gases für die Ukraine - und die langfristige Ausrichtung europäischer Energiepolitik.

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