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Wirtschaft: Geb. 1905

Gertrud Mischwitzky

Gertrud Mischwitzky

Selten liebte ein Sohn seine Mutter wie er. Selten liebte eine Mutter ihren Sohn wie sie. Aber eine Nachricht hatte sie sich lange aufgehoben. Bis der Junge groß ist, mag sie gedacht haben. Rosa von Praunheim, den sie Holger getauft hatten, wurde bald sechzig. Das könnte ein günstiger Zeitpunkt sein, beschloss die damals 95-Jährige. Das neue Jahrtausend nahte, und ein neues Jahrtausend soll man nicht mit Lügen aus dem alten beginnen. Also sagte Gertrud Mischwitzky ihrem Sohn, dass er gar nicht ihr Sohn sei. Dass sie ihn vielmehr gefunden habe in einem Waisenhaus in Riga. 1944.

Rosa von Praunheim hörte gefasst zu. Dreizehn Jahre wohnte seine vermeintliche Mutter nun bei ihm in seiner Berliner Wohnung. Kann keiner sagen, dass sie bisher keine Gelegenheit zum Nachrichtenüberbringen hatte. Andererseits war Rosa von Praunheim schon gewöhnt, dass bei ihm nicht alles genauso ist wie bei anderen. Später erfuhr er noch, dass er vielleicht der Sohn eines russischen Offiziers und eines lettischen Mädchens oder aber der illegitime Spross einer Elbinger Bankiersfamilie sein könnte. Seine Mutter, die nun also gar nicht seine Mutter war, sah ihn etwas verängstigt an. Wie würde der Kleine es aufnehmen? Rosa von Praunheim fühlte, dass Mütter, die gar nicht die richtigen Mütter sind, die noch viel richtigeren Mütter sind. Früher wäre er wohl die Bankiersfamilie suchen gegangen oder den russischen Offizier. Jetzt, da er erwachsen war, also fast sechzig, wusste er, dass man das auch lassen kann. Und er liebte seine Mutter noch mehr als vorher. Was hätte aus ihm in Riga werden sollen? Ein schwuler Künstler im Stalinismus? Homosexueller Soldat der Roten Armee?

Andererseits war Rosa von Praunheim auch nicht viel besser als Nachrichtenüberbringer als seine Mutter. Immerhin wusste sie im Jahre 2000 schon, dass ihr Sohn schwul war. Und wenn sie nachts einen nackten Mann im Flur seiner Wohnung traf, lächelte sie freundlich und erkundigte sich, ob er zu ihrem Sohn gehören würde. Sie mochte die Freunde ihres Sohnes. Vor allem, wenn sie gut Schach spielten. Denn Gertrud Mischwitzky spielte täglich Schach.

Mit den Freundinnen war es manchmal etwas komplizierter. Lotti Huber fand sie doch ein bisschen anstrengend. Weil die immer wissen wollte, wie es denn nun war, als Gertrud Mischwitzky und ihr Mann 1971 aus dem Fernsehen erfuhren, dass ihr Sohn homosexuell war. Na, da habe ich einen Schock gekriegt, sagte sie Lotti Huber. Einen moralischen?, wollte Lotti Huber wissen. Nicht so direkt, weil ich doch gar nicht wusste, dass so etwas überhaupt möglich ist: als Mann Männer zu lieben. Und dann hat sie gleich Holger angerufen, der jetzt ja Rosa hieß, und gefragt, ob er vielleicht einen Psychiater brauche. – Es war reine mütterliche Fürsorge, sagt Rosa von Praunheim.

Da hat er wohl zum ersten Mal begriffen, dass seine Mutter ein Wunder war. Sie hat zu ihm gehalten, obwohl sie ihn gar nicht verstand. Sie war begabt mit einer natürlichen Toleranz, die sich nicht erst durch das Bewusstsein hindurchquälen musste.

Aber wie hätte er das ahnen sollen? Er hatte zu viel Angst, sie zu enttäuschen. Und jede Mutter ist enttäuscht, wenn sie einen Kriminellen als Sohn hat. Homosexualität galt bis eben als Straftatbestand. Und sein Vater hatte gesagt: Mach, was du willst, Hauptsache, du kommst nicht ins Gefängnis. Er hätte es aber auch gut gefunden, wenn sein Sohn Arzt geworden wäre, wogegen Gertrud Mischwitzky sich mehr über einen Postbeamten gefreut hätte.

Ein bisschen gewundert hatte Rosa von Praunheim sich schon immer, dass weder die Familie seines Vaters noch die seiner Mutter durch schöpferische Ausbrüche auffielen. Woher hatte er das? Allerdings lernte Rosa von Praunheim bei seiner Mutter viel über Menschen, denen er sonst wohl misstraut hätte. Menschen, deren höchstes Ziel im Leben darin besteht, Postbeamte zu werden, nennt man gemeinhin Kleinbürger. Kleinbürger, haben wir gelernt, sind tendenziell gefährlich. Schon weil sie so zum Mitläufertum taugen. Gertrud Mischwitzky, die Pfarrerstochter aus einem Dorf in Ostpreußen, war aber mehr Mitfahrerin als Mitläuferin. Eine Nordlandfahrt und eine Italienreise machte sie mit „Kraft durch Freude“. Eine ziemlich selbstständige Frau wurde sie schon vorher, denn sie gehörte zum ersten Jahrgang von Königsberger Berufsschullehrerinnen. Als kaum mehr jemand in Lohn und Brot stand, unterrichtete sie junge Arbeiterinnen in sparsamer Haushaltsführung.

Bis sie den Mann kennen lernte, mit dem sie erst nach Berlin ging und dann, 1942, zurück Richtung Ostpreußen. Ihr Mann baute in Lettland noch kurz die AEG auf, sie fand ihren Sohn in dem Rigaer Kinderheim und floh dann mit ihm und ihrem „kriegswichtigen“ Hund (Dackelmischung, die ohne Attest nicht mitgedurft hätte) zurück nach Berlin. Und da das kleine Grundstück, das die Familie schon vor dem Krieg gekauft hatte, plötzlich im Osten lag, flohen sie bald weiter bis nach Praunheim in Frankfurt am Main. Dass ein Mensch, der nie viel anderes gelernt hatte als die Leitlinien sparsamer Haushaltsführung, toleranter sein konnte als zehn Intellektuelle zusammengenommen, erstaunt Rosa von Praunheim noch immer.

Als er sie aus Frankfurt nach Berlin holte, brachte sie auch ihre Grundkenntnisse in sparsamer Haushaltsführung mit. Wenn sie wieder viel zu oft den Müll runterschaffte, sagte der Sohn zur Mutter, er werde sie später einmal ausstopfen lassen und mit dem Mülleimer in der Hand in den Flur stellen. Gertrud Mischwitzky hat ihrem Sohn immer bedingungslos vertraut, nur in solchen Augenblicken sah sie ihn mit leisem Argwohn an. Künstler!

Sicher ist sicher, dachte sie und beschloss, ihr Begräbnis schon einmal selbst zu organisieren. Damit sie auch wirklich auf einen richtigen Friedhof kommt und nicht in einen Geranien-Blumentopf auf die Fensterbank ihres Sohnes. An ihrem 98. Geburtstag standen eine Torte mit 98 Kerzen vor ihr und eine Vase mit 98 Rosen. Sie spielte Schach wie jeden Tag. Und danach noch einen ganzen Monat lang. Plötzlich machte ein anderer den entscheidenden Zug. Mitten im Spiel, ganz ohne Vorwarnung. Die Partie war noch lange nicht zu Ende. Ein Schachspielerinnen-Tod.

Rosa von Praunheim hatte seiner Mutter versprochen, immer die Küche sauber zu machen. Er hätte sie wirklich viel lieber in einem Blumentopf auf die Fensterbank gestellt. Von dort aus hätte sie alles viel besser kontrollieren können. Aber er weiß auch so, dass sie auf ihn aufpasst. Und auf die Küche.

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