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Wirtschaft: Geb. 1921

Judith Wodrig

Judith Wodrig

Was vom Leben bleibt: Das Freischwimmerzeugnis, unterzeichnet vom Stadtturnwart. Ein Poesiealbum, in dem das Löschblatt noch liegt. Wenige Einträge. Weit vorn, dem Bild des Großvaters nachfolgend, das Bild der Mutter, Freiin von Salis-Soglio, die keine Zeit fand, etwas hineinzuschreiben. Der Spruch des Rektors: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“; und der des Lehrers: „Nur wer Ehrfurcht vor der Vergangenheit unseres Volkes hat, kann dessen Zukunft meistern.“ Das Bild des Vaters in blauer Uniform, Kapitänsleutnant zur See. Und natürlich das eingeklebte Vergissmeinnicht der Freundin: „Denke dran, wie froh wir waren, als wir Kinder noch gewesen.“

Der Tuberkulosebefund des Kursanatoriums, in dem sie etliche Monate verbringen musste.

Das Abiturzeugnis: „Judith war eine freundliche Schülerin. Sie beteiligte sich lebhaft und fördernd am Unterricht und arbeitete fleißig. In die Klassengemeinschaft hat sie sich eingefügt.“

Das Studienbuch der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin mitsamt dem Pflichtenheft für Studierende und der Ausweiskarte für das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut. Immatrikuliert 1940, Abbruch des Studiums im Wintersemester 1940/41. Unterrichtsgeld und Studiengebühr: 525 Reichsmark.

Der maschinenschriftliche Lebenslauf, in dem vermerkt ist, dass sie von der Universität zu der Privathandelsschule Rackow wechselte: „zur Erlernung von Stenographie und Schreibmaschine.“

Ein Mitgliedsausweis vom Deutschen Roten Kreuz, ausgestellt 1943 vom DRK-Oberfeldführer.

Der Verpflichtungsbescheid als Flakhelferin: „Die Arbeitsbedingungen sind Ihnen bekannt gegeben worden.“

Die Entnazifizierungsurkunde der Amerikanischen Militärregierung. Angekreuzt: „2.b. Antragsteller nur ein nomineller Nazi“.

Die unzähligen Weiterbildungsbelege.

Das abschließende Zeugnis der Geschäftsleitung: „Fräulein Wodrig war der Geschäftsleitung gegenüber allein verantwortlich für das gesamte Rechnungswesen. … Wenn eine kürzlich erfolgte Prüfung durch das Finanzamt ohne nennenswerte Beanstandung abgeschlossen wurde, wenn unsere Buchhaltung trotz häufiger personeller Schwierigkeiten tagfertig ist, wenn der Geschäftsleitung immer alle Zahlen zur Verfügung standen, die fundierte Entscheidungen erst ermöglichten…, dann ist das alles zu einem wesentlichen Teil den Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen sowie dem weit über das übliche hinausgehenden Arbeitseinsatz von Fräulein Wodrig zu danken.“

Was ging verloren?

Der Verlobte. Er fiel im Krieg.

Die Hoffnung, je eine eigene Familie haben zu können, denn bis zu ihrem 60. Lebensjahr pflegte sie die Mutter. Und die Mutter ließ keine andere Liebe gelten.

Als die Mutter dann starb, und auch sonst keiner geblieben war, fand sie ein neues Zuhause in ihrer Gemeinde. Und so resolut und umsichtig, wie sie in der Firma aufgetreten war, nahm sie sich nun der kirchlichen Alltagsangelegenheiten an – von nun an kam in Sachfragen keiner mehr an ihr vorbei.

Eine Fregatte im Kirchenschiff, stets einsatz- und kampfbereit. Denn wer, wenn nicht sie, sollte die Sache Christi auf Erden in praktischer Hinsicht verfechten, gemeinsam mit dem Pastor natürlich.

Sie hat zuweilen viel geredet, und wenig gesagt, denn über die entscheidenden Dinge war sie nicht im Zweifel, die stellte sie erst gar nicht zur Diskussion. Also diente das Reden über Gott und die Welt vorwiegend der Behaglichkeit und dem netten Umgang untereinander. Aber manchmal stutzte sie dann doch und blickte mitten im Gespräch irritiert auf ihr Gegenüber: „Sag mal, eigentlich weiß ich gar nichts von dir!“ „Wie auch“, wurde ihr dann entgegnet, „wenn du niemand anderen zu Wort kommen lässt!“

Das bleibt vielleicht noch einige Zeit im Gedächtnis: ihr übervolles Herz. All die kleinen Gefälligkeiten, mit denen sie sich ihren Freunden in der Gemeinde in Erinnerung brachte. Die unzähligen Geschenke, die auszusuchen ihr so viel Mühe bereitete und die sie, als sei das Geschenk an sich noch nicht genug, immer sehr, sehr akkurat verpackte.

Verzierungen allenthalben, Applikationen, wo immer sie möglich waren: Fuchskragen an den Kostümen, Bänder an den Kleidern, die sie allesamt aufbewahrte, selbst die Petticoats. „Natürlich bin ich eitel! Wenn mich schon kein anderer verliebt ansieht, sollte ich es wenigstens tun!“

Die Korsage, die sie eines Tages nicht mehr tragen wollte, und die sie dann verschenkte im Glauben, sie sei noch immer modern. Wie naiv, sicher, aber irgendwann, das gab sie selbst zu, hat sie die Welt nicht mehr verstanden, hat sich nur noch an ihr gestört – und an sich selbst, an ihrem eigenen Körper.

Als sie dann im Hospiz lag und vollends die Kraft verloren hatte, sich selbst zu versorgen, als man sie in die Dusche tragen musste, und eine Freundin sie fragte, ob ihr das nicht peinlich sei, entgegnete sie nur: „Das bin nicht mehr ich.“

Aber entscheidend ist vielleicht, was ihr bis zuletzt blieb: ein seltsam inständiges Gottvertrauen, das sich auch durch die Kirche nicht erschüttern ließ: „Ich kann niemals tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Ein Kokon der Zuversicht. Und als sie dann im Sterben lag, stellte sie nur verwundert fest: „Das hatte ich mir so nicht vorgestellt!“ „Wie denn?“, wurde sie gefragt. „Gar nicht.“

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