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Wirtschaft: Geb. 1946

Ayla Aysin Baliktay

Ayla Aysin Baliktay

Bag könnte ein Wort für Paradies sein. Alles, was sich ein Mensch wünscht, schien es am Bag von Nigde zu geben: Liebe, Geborgenheit, fröhliche Menschen, duftende Traubenhyazinthen und rote Mohnblumen, gutes Essen und Frieden. Als sie klein waren, die Töchter, wollten sie statt Märchen immer nur Geschichten vom Bag hören, Geschichten aus der Türkei, der Heimat ihrer Mutter. Die klangen noch besser als Märchen. Im Haus am Bag – das Wort bedeutet Garten oder Weinberg – war Aysin aufgewachsen. Ihr Vater soll ein engelshafter Mensch gewesen sein. Nach Bag sehnte sie sich ein Leben lang zurück. Nach Bag kehrte sie nie mehr wieder.

Aysin war schön und klug, also ging sie nach Ankara, auf die Universität. Was soll ich denn studieren?, fragte sie ihren Professor. Germanistik, empfahl er. Die Deutschen hatten im Ersten Weltkrieg an der Seite der Türken gekämpft. Dafür sollte man sich erkenntlich zeigen. Aysin war einverstanden und vergrub sich in der Bibliothek. Damit sie nicht allein blieb, zog ihre ganze Familie von Nigde nach Ankara. Weil Aysin nicht nur klug, sondern auch fleißig war, machte sie den besten Abschluss ihres Jahrgangs. Sie bekam ein Stipendium, um ein Jahr in Berlin zu studieren. Mit dem Orient-Express fuhr sie durch halb Europa bis zum Bahnhof Zoo, und ihre erste Frage in Deutschland war: „Gestatten Sie, wie komme ich zur Freien Universität?“

Am Abend des 11. November 1967 saß Aysin allein in ihrem kleinen Zimmer, bereitete sich ein Essen zu und hatte Heimweh. Da klopfte ein fremder Mann an ihre Tür und lud sie zum Faschingsfest im Siegmundshof ein, einem Studentenwohnheim. Das war die erste Party im Leben von Aysin. Ein armer Fischersohn aus Alanya war auch auf diesem Fest. Er sah die schöne Aysin, forderte sie zum Tanz auf und dachte: „Das ist die hübscheste Frau der Welt.“ Nach dem Fest rief er sie 1000 mal an, aber Aysin hielt seinem Werben stand. Sie wollte ungestört lernen und danach wieder heimkehren in die Türkei. Beim 1001. Anruf gab sie nach, und bald wurde Hochzeit gefeiert. Der arme Fischersohn musste sich sehr anstrengen, um auch die Gunst ihrer Eltern zu erringen. Heute ist er Professor an der Technischen Universität.

Als ihr Stipendium abgelaufen war, bekam Aysin eine Stelle als Betreuerin in einem Heim für türkische Siemens-Arbeiter. Es waren bitterarme Leute aus Ostanatolien. Wenn sie zur Arbeit gingen, ließen sie ihre Schuhe zu Hause – auf den anatolischen Feldern hatten sie auch barfuß gearbeitet. Sie wussten nichts über das Land, in das sie geschickt worden waren. Aysin half ihnen, erklärte alles und sah das Staunen in ihren Augen und die Traurigkeit, weil sie in einem fremden Land lebten.

Eines Tages bekam Aysin einen Anruf vom Schulamt. Eine Türkin mit akademischer Ausbildung würde man gerne als Lehrerin anstellen. Aysin sagte sofort zu. Lehrer genossen ein hohes Ansehen in ihrer Heimat. Sie kümmerte sich um die Kinder der türkischen Einwanderer, ging zu ihnen nach Hause, um den Eltern zu erklären, was ein Turnbeutel ist, und welchen Zweck der Sportunterricht verfolgt. Den deutschen Schülern erklärte sie die türkischen Feiertage, und warum es nur einen Gott gibt, aber viele Religionen. Aysin fand sogar zu den aggressivsten und auffälligsten Kindern einen Zugang. Alles dürstete nach Ausgleich in ihr, nach Harmonie und Wärme. Die Kolleginnen an der Schule wurden ihre Freundinnen, aber man konnte sie nicht einfach besuchen wie man Nachbarn in der Türkei besuchte. Früher, in Nigde, waren die Haustüren immer geöffnet. Einmal, da war Aysin noch ein Kind, kam ein Fremder in ihr Haus. Er dachte, es sei ein Hotel, breitete seinen Teppich aus und betete. Man ließ ihn gewähren.

Aysin kleidete sich elegant, kaufte Louis-Vuitton-Täschchen im KaDeWe, schwärmte für Tiffany-Lampen, sprach eloquent und ohne Akzent. Ohne den knallroten Lippenstift aufzutragen, ging sie nicht aus dem Haus. Sie war eine Dame ohne Koketterie. Dass sie unter vielen Mitbewerbern die große Altbauwohnung in Charlottenburg zugesprochen bekam, verstand sich von selbst. Aysins Lächeln konnte Menschen verzaubern. Sie hatte sich perfekt eingelebt, doch wenn sie zur Ruhe kam, umspülte immer wieder das Heimweh ihre Seele.

Irgendwann werden wir zurückkehren. Ganz bestimmt.

Ganz früh stand Aysin auf, kochte, wusch und bügelte, erst dann weckte sie die Familie zum Frühstück. So lange wie möglich sollten alle zusammen sein, deshalb entwickelten die Baliktays eine ungewöhnliche Logistik. Alle fuhren gemeinsam im VW-Käfer zu Aysins Schule. Aysin stieg aus, und der Vater brachte die Töchter zu ihrer Schule. Danach fuhr er das Auto zu Aysins Schule zurück, damit sie nach Schulschluss die Töchter wieder einsammeln konnte. Zur Universität kam Herr Baliktay dann per U-Bahn.

Jeden Sommer fuhren sie sechs Wochen an die türkische Mittelmeerküste oder ans Marmarameer, mieteten eine Villa und luden Eltern, Tanten, Onkels und Cousins ein. Wunderschön waren diese Ferien, erinnern sich die Töchter, die nun auch Heimweh nach dem Orient haben, obwohl sie in Deutschland geboren sind.

1996 entdeckten die Ärzte einen Tumor. Er hatte sich im Sprachzentrum ihres Gehirns eingenistet. Aysin arbeitete weiter, bis es nicht mehr ging. Dann fing sie an, ihre Erinnerungen in Bilder zu fassen. Ölbilder vom Bag, von Nigde, vom Meer. Sie hängte die Bilder an die Wand, ohne Rahmen, nahm sie nach einigen Tagen wieder ab und malte weiter. Mal war eine Katze auf der Straße zu sehen, am nächsten Tag war die Katze verschwunden. Mal angelte ein Mann im Meer, am nächsten Tag saß eine Frau an seiner Stelle ohne Angel. Alle Orte liegen in der Zeit, eine Wiederkehr ist unmöglich.

Die schönsten Bilder brachte sie in die Türkei. In Istanbul richtete sie eine Wohnung ein, in Alanya ein Haus. Für die Rückkehr war alles vorbereitet, als sie langsam schwächer wurde und starb. Am Bosporus haben sie Aysin begraben.

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