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Wirtschaft: Geb. 1974

Kristin Olinger

Und wenn… wenn da nicht die Eifersucht der Schneekönigin gewesen wäre.

Es gibt da ein Märchen, das Hans Christian Andersen nie aufgeschrieben hätte, weil es zu traurig ist: das Märchen von der kleinen Schwester der Schneekönigin.

Die Schneekönigin, das weiß jeder, wohnt im Sommer am Nordpol und im Winter überall dort, wo es ihr gefällt. Eine große Dame, schlank, schön, aber etwas eisig in ihrer Art. Ihre Augen blitzen wie zwei Sterne, aber es ist weder Ruhe noch Rast in ihnen, und ihr Atem ist so neblig kalt, dass die meisten Husten kriegen, wenn sie in ihre Nähe kommen. Deswegen ist sie meist allein unterwegs.

Ihre kleine Schwester Kristin war da ganz anders. Die „kleine Schneekönigin“, so nannten sie ihre Freunde, war eher etwas kräftig gebaut. Und wenn ihre Augen blitzten oder Tränen darin standen, dann weil sie lachte. Weder wohnte sie in einem glänzend weißen Schloss, noch fuhr sie mit dem Pferdeschlitten, obwohl sie auch aus dem Norden kam, genauer gesagt aus Nordnorwegen. Und eigentlich auch wieder nicht. Zwar stammte ihre Familie von dort, aber geboren wurde sie in Luxemburg. Doch bald darauf ging es auf Reisen, zunächst mit den Eltern, dann allein. Sesshaftigkeit war ein Fremdwort für Kristin, das in ihren Ohren ähnlich hässlich klang wie Durchfall oder alkoholfreies Bier.

Nordnorwegen, Schweden, Frankreich, England, die Urlaubsländer gar nicht gerechnet. Sie sprach mehr Sprachen, als die Woche Tage hat, war überall daheim – und auch wieder nicht.

Dänisches Abitur an einer Europaschule, dann Studium der Medizin, der Kunstgeschichte. Sie schnupperte überall hinein, sah sich um, und wusste irgendwann ganz genau, was sie nicht wollte. Viel blieb da nicht mehr übrig: Technikgeschichte und Kommunikationswissenschaft. Da kommt kein Prickeln auf, aber sie hatte sich entschieden. Auch für die Stadt Berlin. Tagträumereien: Ein Jahr noch, dann der Abschluss des Studiums. Vielleicht eine Sprachenschule eröffnen, aber eine nach ihrer ganz eigenen Methode. Sprachen lehren, wie sie auf der Straße gesprochen werden und nicht wie im Sprachlabor. Und wenn dann die ersten Schüler ganz begeistert anderen von ihrer Methode erzählen, gar nicht auszudenken, wie berühmt sie werden würde. Und wenn… und wenn da nicht die Eifersucht der Schneekönigin gewesen wäre.

Wenn sie auf die Schlechtigkeit der Welt zu sprechen kommen, erzählen die Großmütter in Nordnorwegen gern von dem bösen Spiegel des Trolls, der alles Große und Gute, das sich darin spiegelte, klein und hässlich machte. Dem Troll zerbrach der Spiegel in Millionen Splitter, die vom Wind überall hingetragen wurden. Jeder, der von einem Splitter getroffen wird, und sei er noch so klein, hat bald kein Herz mehr, sondern nur noch einen Eisklumpen in der Brust, ganz gleich ob im Winter oder im Sommer. Wie jeder weiß, werden sehr viele von so einem Splitter getroffen.

Die Freunde von Kristin haben immer gerätselt, warum sie eigentlich so liebenswert war: Obwohl sie Harry Potter las, wie alle anderen auch, und den Herrn der Ringe mochte, und weder Atem beraubend hübsch war, noch – als Norwegerin – besonders blond, und gelegentlich auch nach Bier roch.

Die Sache ist ganz einfach: Sie war einer der wenigen Menschen, die von den Troll-Splittern verschont werden. Wo immer sie auftauchte, wollte man sie gern dabehalten, denn jedem wurde warm ums Herz. Kein Wunder, dass ihre große Schwester, die Schneekönigin, da eifersüchtig wurde und ein wenig hexte. Woher sonst sollte bei einer Norwegerin wie Kristin eine Allergie gegen Fisch rühren?

Na und wenn schon, musste sie sich eben impfen lassen, wenn sie Sushi essen wollte – „Da kennst du mich aber schlecht…“ Und wenn sie Geld brauchte, hat sie Crêpes gebacken oder auf der Pornomesse als Hostess gearbeitet. Da sollte ihr mal einer blöd kommen! Nichts gegen das Älterwerden, aber irgendwie war sie immer noch Ronja Räubertochter, die gern vom Dach springt, wenn sie nicht gerade die Regenrinne runterrutscht, nur dass sie bei größeren Höhen einen Fallschirm benutzte. Unglaublich viel Spaß hat ihr das Leben gemacht, auch wenn sie das Gefühl nie ganz los wurde, ein wenig heimatlos zu sein. „Mein Zuhause ist in den Herzen meiner Freunde!“ Das klingt schön, tröstet aber nicht, wenn man in der Kneipe die Lieder nicht mitsingen kann. Nicht aus vollem Herzen jedenfalls. Deswegen wollte sie in Berlin bleiben, für immer. Oder fast für immer, man weiß ja nie. Zumal ihr bester Freund in Wedding wohnte, obwohl er eigentlich lieber als Walfischfänger unterwegs gewesen wäre. Mit dem trank und arbeitete sie, und wenn sie nicht gestorben sind, dann… ja was dann?

Sie wollte eine Familie; und sie wartete immer noch auf die ganz große Liebe, nicht sonderlich ungeduldig allerdings – es kommt, wenn es kommt.

Flugnummer LG 9642 / LH 2420. Die Pressemitteilung am 7. November, dem Tag danach: Am Mittwochmorgen ist eine Fokker-50 der Luxair beim Landeanflug auf den Luxemburger Flughafen bei dichtem Nebel in ein Feld gestürzt und in Flammen aufgegangen. 20 der 22 Insassen kamen ums Leben.

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