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© ddp

Jobs & Karriere: Risiko Mensch

Menschliches Versagen kann Leben kosten. Human-Factor-Experten entwickeln Simulatoren und schulen Verantwortliche, damit aus Fehlern keine Katastrophen werden

An Bord der MS Antwerpen scheint alles in Ordnung zu sein. Das mittelgroße Kreuzfahrtschiff unter panamesischer Flagge passiert gerade Neufundland. Es ist auf dem Weg nach Miami. Doch viele der rund 300 Passagiere werden nie dort ankommen. Binnen weniger Stunden brechen zuerst ein Großbrand, dann eine tödliche Epidemie und schließlich ein Orkan aus. Spätestens jetzt rächt es sich, dass die MS Antwerpen seit ihrem Stapellauf 1947 keine Werft mehr von innen gesehen hat. Als der Kapitän alle in die Rettungsboote beordert, gibt es in der allgemeinen Panik Verletzte und Tote.

Immerhin – sie lassen ihr Leben für einen guten Zweck. Genau genommen stirbt niemand vor Neufundlands Küste. Die marode MS Antwerpen ist kein echtes Schiff. Es gibt sie nur im Computer und wird zum psychologisch-technischen Krisentraining eingesetzt. Das Programm hilft, künftige Katastrophen zu verhindern. Es trainiert Teams, die im Krisenfall die richtigen Entscheidungen treffen müssen, Polizisten und Piloten in der Ausbildung etwa. „Der Mensch ist im Umgang mit komplexen Problemen schlecht, deswegen bleibt beim ersten Mal von der MS Antwerpen meist nicht mehr viel übrig“, sagt Stefanie Huber, Diplom-Psychologin und Sicherheitsberaterin aus Berlin.

Die 30-Jährige ist Spezialistin für den „Human Factor“, den Risikofaktor Mensch im technischen Umfeld. Seit zwei Jahren arbeitet sie bei der Beratungsgesellschaft Human-Factors-Consult (HFC) in Berlin. Das Unternehmen ist spezialisiert auf Beratungs- und Entwicklungsprojekte am Schnittpunkt zwischen Mensch und Technik. 2002 ist es als Spin-off aus dem Zentrum Mensch-Maschine-Systeme an der TU Berlin hervorgegangen, heute beschäftigt es 24 Mitarbeiter, darunter Psychologen, Ingenieure und Informatiker.

Im technischen Umfeld ist häufig der Mensch die Schwachstelle. Das zeigten kürzlich der Air-France-Absturz vor Brasilien und der Untergang der Fähre Estonia auf der Ostsee vor 15 Jahren.

In diesen Fällen sind Human-Factor-Spezialisten gefragt. Sie sollen die Anwendungs- und Bedienungsfehler durch den Menschen verhindern und Katastrophen vermeiden helfen. Sie arbeiten als Sicherheitsmanager in Kraftwerken, Chemiefabriken oder auf Flughäfen sowie als Berater bei der Ausbildung von Lokführern, Fluglotsen und Piloten.

Aber auch in den Entwicklungsabteilungen der Industrie, in Forschungsinstituten und bei Ingenieurdienstleistern sind die Experten tätig, um komplexe technische Produkte wie Autos, Medizingeräte und IT-Systeme sicherer und anwenderfreundlicher zu gestalten. Zu den Kunden von HFC gehören Automobilkonzerne wie Audi und Daimler, Technologielieferanten wie Diehl Avionik Systeme und Siemens oder die Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens FraPort.

„Psychologisches Know-how kann helfen, aus einem technisch leistungsfähigen Produkt ein Erfolgsprodukt zu machen“, sagt Professor Dietrich Manzey vom Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft an der TU Berlin. Anwenderfreundliche Produkte verkaufen sich besser, auch sinken mit den Fehlerquellen Kosten für Schulungen und Kundendienst.

Vor zwei Jahren hat der Psychologie-Professor in Berlin den ersten deutschen Studiengang zum Master of Human Factors eingeführt. Das Studium verknüpft in vier Semestern Inhalte aus der Arbeits- und Verkehrspsychologie und der Ergonomie mit Ingenieurwissen. Es gibt 50 Plätze pro Jahrgang, Voraussetzung für die Teilnahme ist ein technischer oder psychologischer Hochschulabschluss. Die ersten Absolventen stehen kurz vor dem Abschluss. In ihren Studienarbeiten und Forschungsprojekten haben sie bei Unternehmen wie der Deutschen Bahn, EADS, Airbus oder Dräger (Medizintechnik) Praxiserfahrung gesammelt.

In anderen Ländern gibt es vergleichbare Ausbildungsangebote schon lange. In den USA bieten Hochschulen seit 20 Jahren Human-Factors-Studiengänge an. Die schwedische Lund-Universität, die ein eigenes Pilotenausbildungszentrum betreibt, hat 2006 die erste Professur für Human Factors und Flugsicherheit in Europa eingeführt.

In Lund hat auch Stefanie Huber studiert. Schon während ihres Psychologie-Studiums an der Universität Bamberg wurde ihr klar, dass eine klassische Karriere als Therapeutin nichts für sie ist. Als sie im sechsten Semester ein Seminar über Human Factors belegte, stand die Marschrichtung für sie fest: „Wir haben jede Menge Schiffsunglücke analysiert, das war unglaublich spannend“, sagt sie. Parallel zum Studium in Bamberg absolvierte sie in Lund ein Fernstudium zum Master of Human Factors and System Safety. Dabei lernte sie auch die MSAntwerpen kennen. Für ihre deutsche Diplomarbeit scheucht sie in Lund bei einem wissenschaftlichen Versuch tagelang Piloten durch einen Flugsimulator. Die eine Testgruppe hatte vorher intensiv auf der MS Antwerpen um das Überleben von Passagieren und Besatzung gekämpft, die andere ging unvorbereitet in den Versuch. Am Ende kann Stefanie Huber eindeutig belegen, dass sich das Training positiv auf das Reaktions- und Entscheidungsvermögen in Krisensituationen auswirkt , wenn der Pilot und die Crew schon mal die MS Antwerpen durch Sturm manövriert haben.

Wie nah diese Simulationen an der Wirklichkeit sind, zeigte das Air-France-Unglück im Juni, als ein Airbus mit fast 230 Menschen an Bord auf dem Weg von Brasilien nach Frankreich über dem Atlantik abstürzte. Die Piloten der Unglücksmaschine waren in ein schweres Gewitter geraten und hatten – möglicherweise auch durch eigene Fehlentscheidungen – technische Probleme bekommen, die immer weiter eskalierten. Bis zum Absturz meldete die Crew im Minutentakt immer neue Systemausfälle. Auch beim schweren Fährunglück der Estonia soll die Besatzung falsch reagiert haben. Die überwiegend schwedischen Passagiere verstanden die nur auf Estnisch durchgegebenen Lautsprecheransagen nicht. 852 Menschen starben bei der Katastrophe.

Stefanie Huber will helfen, solche Unglücke in Zukunft zu verhindern. Bei HFC hat sie sich auf Luftfahrtprojekte spezialisiert. Im Moment steckt sie regelmäßig einen nagelneuen Flughafen in Brand, natürlich am PC. „Wir simulieren menschliches Verhalten unter Panik an Flughäfen.“ Die Erkenntnisse sollen den Betreibern helfen, Flughäfen sicherer zu gestalten, also Notausgänge, Fluchtpläne und Hinweisschilder so anzubringen, dass eine panische Menschenmenge bei einem Brand oder Anschlag möglichst heil und vollzählig herausfindet.

Eine Mammutaufgabe für ein interdisziplinäres Team aus Psychologen, Ingenieuren und Programmierern. „Damit es realistisch wird, mussten wir eine Unmenge von menschlichen Faktoren berücksichtigen“, sagt Huber. Schließlich tummeln sich auf einem internationalen Flughafen unterschiedlichste Typen, deren Körpermaße, Sprachkenntnisse und psychologische Verhaltensmuster stark variieren. „Manche Menschen sind eher Führer- und andere Folgetypen“, erläutert Stefanie Huber. Doch egal, wie jemand reagiert – am Ende sollen möglichst alle überleben.

Weitere Karriereschritte für die Zeit nach der Promotion hat Huber noch nicht geplant. Über Einstiegschancen wird sie sich in einer immer komplexeren Welt bestimmt keine Sorgen machen müssen. Trotz Forschung und Training wird der Mensch auch in Zukunft immer ein gewisses Risiko bleiben.

Den vollständigen Beitrag finden Sie in der Oktoberausgabe von „Junge Karriere“

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