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Der Einstiegslohn in der Gebäudereinigung steigt von 11,55 auf 13 Euro. Fassadenreiniger bekommen noch ein paar Euro mehr.

© imago/IPON

Kaufkraft schrumpft um 3,6 Prozent: Tariferhöhungen bleiben deutlich unter der Inflation

In diesem Jahr steigen die Tariflöhne bislang nominal um 2,9 Prozent, nach Abzug der Inflationsrate sinken sie real um 3,6 Prozent

Im zweiten Jahr nacheinander sinken die Tarifeinkommen. 2021 waren die Tarife im Schnitt um 1,7 Prozent gestiegen und die Preise um 3,1 Prozent. Die Kaufkraft der Beschäftigten, die nach Tarif bezahlt werden, schrumpfte also um 1,4 Prozent. In diesem Jahr fallen die realen Einkommen sogar um 3,6 Prozent – mindestens. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung hat die Daten für das erste Halbjahr ermittelt: Die Tariflöhne stiegen um 2,9 Prozent, doch wegen der hohen Preissteigerung von 6,5 Prozent, hatten die Beschäftigten real 3,6 Prozent weniger Einkommen. Im zweiten Halbjahr wird die Kaufkraft noch stärker schrumpfen, da die Inflationsrate inzwischen bei 7,5 Prozent liegt und in den kommenden Monaten voraussichtlich bis auf zehn Prozent steigt. Tankrabatt und Neue-Euro-Ticket laufen aus und ab Oktober verteuern allein die neuen Umlagen Gas um rund 30 Prozent.

Elf Millionen Beschäftigte bekommen mehr Geld 

Im ersten Halbjahr wurden für knapp elf Millionen Beschäftigte Tariferhöhungen wirksam, die bereits 2021 oder früher in Tarifverträgen mit mehrjähriger Laufzeit festgelegt wurden. Hierzu gehören auch große Bereiche wie der öffentliche Dienst oder der Einzelhandel. „Diese älteren Abschlüsse wurden zu einem Zeitpunkt vereinbart, an dem noch von deutlich geringeren Inflationsraten ausgegangen wurde. Demnach schlagen diese Vereinbarungen für 2022 mit einer Tariferhöhung von lediglich 2,5 Prozent zu Buche“, schreibt das WSI.  

Die Abschlüsse in diesem Jahr sind höher

Angesichts der im Zuge des Ukraine-Krieges deutlich gestiegenen Inflationsraten war dann im Frühsommer „ein Trend zu höheren Tarifzuwächsen erkennbar“. In der Stahlindustrie, die von hohen Preisen profitiert, setzte die IG Metall einen Erhöhung um 6,5 Prozent durch. Das war der höchste Abschluss seit 30 Jahren. Im Durchschnitt liegen die diesjährigen Tariferhöhungen bei 4,5 Prozent. „Da insgesamt die Anzahl der bislang von den tarifvertraglichen Neuabschlüssen betroffenen Beschäftigten mit knapp über drei Millionen relativ gering ausfällt, ergibt sich zusammen mit den älteren Tarifabschlüssen für 2022 eine Tariferhöhung von insgesamt 2,9 Prozent“, schreibt das WSI. Von den Erhöhungen profitiert nur knapp die Hälfte der Arbeitnehmer, da der überwiegende Teil inzwischen in Unternehmen arbeitet, die keine Tarifverträge anwenden. Im Osten sind das deutlich mehr als im Westen.

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Aufgrund des Arbeitskräftemangels und der bevorstehenden Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro zum 1. Oktober gab es einige spezielle Tarifabschlüsse in Niedriglohnbereichen. Dazu gehörten das Hotel- und Gaststättengewerbe, das Gebäudereinigungshandwerk und die Leiharbeit mit zweistelligen Zuwächsen. Hier können sich die Beschäftigten sogar über steigende Reallöhne freuen. „Mit außergewöhnlich hohen Entgeltzuwächsen reagieren diese Tarifbranchen auf den zunehmenden Arbeits- und Fachkräftemangel“, schreibt WSI-Tarifexperte Thorsten Schulten. Der Einstiegslohn für das Personal der Gebäudereinigung steigt im Oktober von 11,55 auf 13 Euro, das entspricht einem Zuschlag um 12,6 Prozent. Im Gastgewerbe setzte die Gewerkschaft NGG Erhöhungen bis zu 27 Prozent durch, die in Schritten über einen Zeitraum von zwei Jahren erfolgen.

Erhöhung des Mindestlohns wirkt

Da vor allem die unteren Einkommen angehoben würden wegen des Mindestlohns, erweise sich dieser „entgegen mancher Kritik aus den Arbeitgeberverbänden als ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Tarifvertragsbeziehungen“. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände hat die Erhöhung des Mindestlohns als einen Eingriff in die Tarifautonomie zurückgewiesen. Der gesetzliche Mindestlohn war 2015 beim Stand von 8,50 Euro eingeführt worden und liegt derzeit bei 10,45 Euro.

Heißer Herbst in der Metallindustrie 

Die Tarifrunde 2022 wird im zweiten Halbjahr durch eine Reihe weiterer Tarifverhandlungen komplettiert, die insgesamt die Tarifbilanz des Jahres noch verschieben können. Hierzu gehören Branchen, in denen bislang noch kein Verhandlungsergebnis erzielt werden konnte (wie bei den Seehäfen) oder in denen im Frühjahr 2022 die Verhandlungen unterbrochen wurden, um sie im Herbst fortzusetzen (chemische Industrie). Am wichtigsten sind die Tarifverhandlungen für knapp vier Millionen Mitarbeitende in der Metallindustrie, die im September beginnen und für die die IG Metall acht Prozent fordert. Ende des Jahres beginnen dann die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst (Kommunen und Bund). Nach einem dürftigen Corona-Abschluss 2020 mit 1,4 Prozent 2021 und 1,8 Prozent 2022 will Verdi diesmal deutlich mehr durchsetzen für die 2,3 Millionen Beschäftigten, davon 2,1 Millionen in den Gemeinden.

"Lohn-Preis-Spirale ist eine Fata Morgana" 

Die Pandemie hat die Tarifauseinandersetzungen 2020 und 2021 geprägt, in diesem und im nächsten Jahren sind es der Krieg und die Kriegsfolgen. „Angesichts der vollkommen ungewissen Entwicklung des Ukraine-Krieges und seiner wirtschaftlichen Folgen ist die Tarifpolitik überfordert, die Kaufkraftverluste der Beschäftigten auszugleichen. Hier sind zusätzliche Entlastungsmaßnahmen durch den Staat notwendig“, meinte Schulten. Zugleich kritisierte der WSI-Wissenschaftler die Maßhalteapelle an die Gewerkschaften: „Ein nüchterner Blick auf die Tarifdaten zeigt: Die vielbeschworene Lohn-Preis-Spirale ist eine Fata Morgana. Es besteht im Gegenteil die Gefahr, dass Reallohnverluste die private Nachfrage weiter schwächen und damit die wirtschaftliche Entwicklung zusätzlich beschädigen.“

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