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Wirtschaft: Kein Platz für die Jugend

Der DGB befürchtet in diesem Jahr mindestens 40 000 fehlende Lehrstellen / Nur noch jeder vierte Betrieb bildet aus

Berlin - Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt wird sich in diesem Jahr stärker verschlechtern als bislang angenommen. Mindestens 40 000 Jugendliche würden keinen Ausbildungsplatz bekommen, prognostizierte die Vizechefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Ingrid Sehrbrock, im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Die tatsächliche Zahl der Bewerber ohne reguläre Stelle sei aber noch größer und liege bei 140 000. „Die Lage ist weitaus dramatischer, als es Regierung und Wirtschaft wahrhaben wollen“, sagte sie. Unternehmen und das Bundesinstitut für Berufsbildung sehen die Lage weniger dramatisch und erwarten nur eine Lehrstellenlücke von gut 30 000.

Das neue Ausbildungsjahr beginnt Ende September. Die Bundesagentur für Arbeit geht bislang davon aus, dass es rechnerisch für bis zu 31 000 Jugendliche keine Lehrstelle geben wird. Dabei werden die unversorgten Bewerber der Zahl der frei gebliebenen Stellen gegenübergestellt. 2005 hatte die Lücke noch knapp 28 300 betragen, im Jahr davor waren es nur 20 200.

Dem DGB zufolge spiegelt diese Zahl nur einen Teil der Wirklichkeit. „Ein großer Teil der jungen Leute, die sich mehrfach erfolglos beworben haben, absolviert erst einmal Wehr- oder Zivildienst, geht weiter in die Schule oder in eine der vielen Maßnahmen der Bundesagentur“, argumentiert die stellvertretende DGB-Vorsitzende Sehrbrock. Deshalb fehlten tatsächlich 140 000 Arbeitsplätze. „Der Ausbildungspakt ist gescheitert, nur mit Appellen und Klinkenputzen bei den Unternehmen kommt man nicht weiter“, resümierte sie.

Auf den Pakt hatten sich die Bundesregierung und die Wirtschaftsverbände aus Handwerk, Handel und Industrie im Sommer 2004 verständigt. Demnach sollen die Unternehmen pro Jahr 30 000 neue, aber nicht zusätzliche Lehrstellen anbieten. Damit hatten die Unternehmen die Einführung einer Ausbildungsplatzumlage für solche Betriebe abgewendet, die zu wenig oder gar nicht ausbilden. Der Staat sichert den Jugendlichen zudem 25 000 Einstiegsqualifikationen zu.

Trotzdem war die Zahl der abgeschlossenen Neuverträge im vergangenen Jahr auf den tiefsten Stand seit der Wende gesunken. „Die Firmen rechnen zunehmend mit spitzem Bleistift und streichen alles, was nicht sofort Gewinn bringt. Das ist kurzsichtig“, bemängelt Sehrbrock. Nur noch knapp 24 Prozent der Betriebe bildeten überhaupt aus. Sehrbrock beklagt daher „eine schleichende Verstaatlichung, weil die öffentliche Hand immer mehr Ausbildungs-Angebote machen muss“. Um Altbewerbern eine Perspektive zu geben, müsse es ein Sonderprogramm für 50 000 zusätzliche Plätze geben, finanziert von der Bundesagentur. Sie plant bislang nur 7500 zusätzliche Stellen für Jugendliche aus Migrantenfamilien.

Die Unternehmen teilen die Prognosen des DGB nicht. „Die Paktpartner sind zuversichtlich, dass alle Schulabgänger, die sich ernsthaft um Ausbildung bemühen, auch eine Chance bekommen“, sagte Ludwig Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) dieser Zeitung. Im Vergleich zu 2003 sei die Zahl der Lehrverträge bei den Kammern um knapp neun Prozent gestiegen. Zudem melde mittlerweile fast die Hälfte der Betriebe ihre Lehrstellen nur hin und wieder oder gar nicht bei der Bundesagentur für Arbeit (BA). „Wir schätzen, dass die Lehrstellenlücke Ende September 2006 nicht wesentlich größer sein wird als im vergangenen Jahr: etwa 30 000“, sagte Braun. Danach gingen die Anstrengungen weiter, „bis Jahresende werden wir die Lücke weiter schließen können“.

Ähnliche Zahlen wie Braun erwartet auch Manfred Kremer, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. „Durch die Konjunkturbelebung wird es aber eine Zunahme bei den abgeschlossenen Lehrverträgen von etwa 10 000 auf 560 000 geben, womöglich auch darüber“, sagte er. Allerdings sei die Zahl der Schulabgänger gewachsen, und es gebe zahlreiche Altbewerber, die in den vergangenen Jahren nicht zum Zug gekommen seien. „Bis die Betriebe auf die bessere Wirtschaftslage reagieren und ihre Personalpläne nach oben korrigieren, dauert es etwas.“ Eine Senkung der Lehrlingsbezüge, wie zuletzt von Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) gefordert, würde den Markt nicht beleben, glaubt er. „ Die meisten Firmen klagen über einen Mangel an qualifizierten Bewerbern, nicht über zu hohe Kosten.“

Für die kommenden Jahre erwartet Kremer eine unterschiedliche Entwicklung in Ost und West. In den alten Ländern werde die Nachfrage nach Lehrstellen wegen geburtenstarker Jahrgänge noch bis 2012 steigen. „Das Angebot an betrieblichen Plätzen wächst vermutlich nicht im selben Maß.“ Um Engpässe zu überbrücken, sollten Berufsfachschulen oder Berufsbildungsstätten daher zusätzliche Ausbildungen anbieten. Dagegen werde es im Osten ab 2008 prekär – „dann werden nur noch halb so viele Jugendliche wie 2004 die Schulen verlassen, und die Firmen in den neuen Ländern werden händeringend nach Bewerbern suchen“. Sicherlich würden sie dann versuchen, junge Leute aus dem Westen anzuwerben.

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