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Wie stabilisiert man das Tarifsystem: DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und Ingo Kramer, Präsident der Arbeitgeberverbände (BDA) haben unterschiedliche Antworten darauf, kommen aber sonst gut miteinander klar.

© imago/IPON

100 Jahre Stinnes-Legien-Abkommen: Lieber Acht-Stunden-Tag als die Revolution

Vor 100 Jahren, im November des Jahres 1918, legte das Stinnes-Legien-Abkommen in Deutschland die Grundlage für das moderne deutsche Tarifsystem.

Die Angst vor der wütenden Masse machte es möglich. Denn die großindustriellen Arbeitgeber fürchteten in den Wirren des Novembers 1918 um ihr Produktivkapital. In deutschen Städten bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, auch mit dem Ziel der Verstaatlichung von Industriebetrieben. Um Dampf aus dem Kessel zu lassen und den Kapitalismus zu retten, unterzeichnete der Ruhrgebietsfabrikant Hugo Stinnes gemeinsam mit dem Gewerkschafter Carl Legien am 15. 11. 1918 ein Abkommen, das bis heute als grundlegend gilt für die Wirtschaftsverfassung respektive das Tarifsystem Deutschlands. Der Berliner Jurist Uwe Wesel würdigte die Vereinbarung einmal als „vernünftigen Sozialpakt, in dem die deutschen Arbeiter auf die Revolution verzichtet haben zugunsten erträglicher Arbeitsbedingungen“.

Tatsächlich erreichte Legien damals den Acht-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich auch deshalb, weil im Verhandlungsort, dem Berliner Hotel Continental, Maschinengewehrfeuer zu hören war. Das forcierte die Kompromissbereitschaft von Stinnes. Die noch kurz zuvor verteufelten Gewerkschaften wurden als Vertretung der Arbeitnehmer und gleichberechtigte Tarifpartner akzeptiert.

Festakt im Deutschen-Historischen-Museum

Am Dienstag (16. Oktober 2018) feiern der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden das Stinnes-Legien-Abkommen. Auf Twitter laufen die Statements dazu unter #Sozialpartner100.

Die Festrede hält der Bundespräsident, DGB-Chef Reiner Hoffmann und Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer werden Worte finden zur aktuellen Tarifsituation – und unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Die Schwäche des Systems verdeutlicht nichts besser als der gesetzliche Mindestlohn: Weil Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände immer weniger Betriebe und Beschäftigte mit ihren Tarifen erfassen, führte der Gesetzgeber 2015 einen Mindeststundenlohn von 8,50 Euro ein. Vor allem in Dienstleistungsbranchen haben die Gewerkschaften Mühe, Mitglieder zu finden, mit deren Hilfe, notfalls im Streik, Tarife durchgesetzt werden können. Und immer mehr Arbeitgeber haben sich dem „Tarifdiktat“ entzogen, indem sie keinem Tarifträgerverband angehören, sondern die Arbeitsbedingungen freihändig festlegen. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, wo die Sozialpartnerschaft auch knapp 30 Jahre nach dem Fall der Mauer weit entfernt ist vom westdeutschen Niveau.

Neue Wünsche beider Tarifpartner

Arbeitgeberpräsident Kramer plädiert für eine Öffnungsklausel im Flächentarifvertrag, damit in den Betrieben selbst mehr geregelt werden kann. Sozusagen passgenau nach den Bedürfnissen der Firma und ihrer Beschäftigten. Der Gesetzgeber hat indes den Gewerkschaften klar einen Tarifvorrang gegenüber den Betriebsräten eingeräumt – weil Gewerkschaften unabhängiger agieren können als Betriebsräte und weil auf der Ebene des Branchentarifvertrags gleiche Wettbewerbsbedingungen für viele Firmen geschaffen werden können.

DGB-Chef Hoffmann wiederum wünscht sich von der Politik Hilfe bei der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und dazu die Vergabe öffentlicher Aufträge nur an solche Unternehmen, die auch Tariflöhne zahlen. Da rund 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hierzulande an der öffentlichen Auftragsvergabe hängen, verspricht sich Hoffmann viel von solchen Tarifklauseln im Vergaberecht. Der Berliner Senat bereitet das gerade vor; orientiert am Tarif der Bundesländer liefe das auf einen Mindeststundenlohn von 10,50 Euro in Unternehmen hinaus, die sich um öffentliche Aufträge bewerben.

Stinnes und Legien übrigens schrieben noch einmal Geschichte. Der Unternehmer aus dem Ruhrpott, zu dessen Konglomerat mehr als 500.000 Beschäftigte gehörten, indem er 1923 angesichts französischer Reparationsforderungen die Arbeitszeit wieder hochsetzte. Und der Gewerkschaftschef, indem er 1920 den rechten Kapp-Putsch mit einem Generalstreik stoppte.

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