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Wirtschaft: Marianne Rothe

Geb. 1941

Das Segeln auf ruhigen Gewässern. Die Monotonie des Glücks. Wie kann das sein“, fragte sie sich manchmal, wenn sie in eine Gaststätte kam und dort ein Paar sah, das sich beharrlich anschwieg. „Wie kann das sein, dass er nicht mehr da ist und andere…“

Sie dachte den Satz nie zu Ende, denn sie wünschte niemandem etwas Böses. Sie wollte einfach ihn zurückhaben in ihr Leben, das so viele Jahre frei von Untiefen gewesen war.

Geboren wurde sie in Königsberg, aber an den Krieg und die Flucht hatte sie keine Erinnerungen mehr. Auch nicht an ihren leiblichen Vater, der die Familie früh verließ. Sie hat ihn nie wieder sehen wollen, nie nach ihm gefragt. Für sie war von nun an der neue Mann der Mutter ihr Vater. Ein strenger Mann, aus dem Bankfach, der im Krieg gewesen war. Aber darüber wurde nicht geredet. Das Dritte Reich war von einem Tag auf den anderen vergessen.

Den Eltern ging es schnell wieder gut, Deutschland auch, und in Berlin ließ es sich bald besser leben als auf dem Brandenburger Land, wo sie die ersten Monate nach Kriegsende bei Verwandten untergebracht worden war.

Realschule. Keine besonderen Vorlieben, kein herausragendes Talent. Wenn der strenge Stiefvater es zuließ, ging sie sehr gern tanzen. Auch Urlaubsflirts sicher, aber nichts Richtiges.

Dann lernte sie ihn kennen, Wolfgang, beim Tanzen, obwohl er gar nicht gut tanzen konnte. Ein Jahr später die Heirat. Was an ihm auffiel? „Er hatte damals schon ein eigenes Auto. Einen VW-Käfer!“

Wolfgang war Industriekaufmann, arbeitete in einer Firma, die Luftfilter für Labors herstellte, 99,999 Prozent Luftreinheit wurden garantiert. Penibel und herzlich, die Verlässlichkeit in Person. Wolfgangs Vater war Bernsteinschleifer gewesen. Ein Neuköllner, der partout nicht hatte in den Krieg ziehen wollen, und deshalb als Funker zur Polizei gegangen war. Der lieber mal ein Buch kaufte als einen Weihnachtsbaum, und dann, auf den Protest der Familie hin, einfach Tannenzweige an einen Besenstiel hing.

Diese Welt war Mariannes Stiefvater, dem morgens von der Frau Hemd und Anzug herausgehängt wurden, zutiefst suspekt, aber in ihr Leben ließ sie sich nicht reinreden, auch nicht von der Mutter.

Sie wollte einfach mit Wolfgang glücklich sein. Ein Kind ja, aber keine große Familie. Dazu verbrachte sie zu gern die Zeit mit ihm. Daheim mit einem Buch auf der Couch, klassische Musik hören, Theaterclub, Philharmonie. Davor, danach ein Glas Wein.

Die gemeinsamen Reisen. Das Segeln – aber nur auf ruhigen Gewässern. Die Monotonie des Glücks.

Ein Bild erzählte ihre Geschichte, lässt alle anderen Bilder, alle Zweifel an diesem Leben verblassen. Als er nach der Chemotherapie wieder nach Hause kam, wurde der Geburtstag einer Tante gefeiert. Ein kleiner Tanz. Wolfgang sieht man nur von hinten, mit halb geschorenem Kopf. Man ahnt, es gab besser aussehende Männer als ihn, klügere, reichere. Aber kein anderer wurde je so geliebt. Sie himmelt ihn an auf diesem Bild, mit einem Lächeln, das eifersüchtig macht auf dieses Glück.

Wolfgangs Hirntumor war nicht aufzuhalten. „Ein rundes Spielgerät mit vier Buchstaben?“ Er blickte von seinem Kreuzworträtselheft auf und sah sie fragend an. Da wusste sie, es war vorbei.

Nach seinem Tod hat sie niemanden an sich herangelassen, hat sich weggepanzert.

Trauer ist nicht mitteilbar. Sie fand zwar nach Monaten wieder zurück in einen erträglichen Lebensrhythmus, gönnte sich Reisen, Konzerte, aber das nagende Gefühl, unvollständig zu sein, blieb, machte sie selbst krank. Bauchspeicheldrüsentumor. Der tückischste Krebs.

Sie kämpfte, ihrem Sohn zuliebe, aus Pflichtgefühl, aber irgendwann reichte es. Keine Freunde, kein Telefon, kein Radio, gar nichts. Nur noch Soap Operas. „Verbotene Liebe“. Das war ihr neues Leben. Das andere ging nicht mehr. „Ist mir alles zu viel.“

Sie horchte einige Tage in sich hinein, bat dann ihren Sohn und ihre Schwiegertochter ans Krankenbett, und erklärte ihnen, dass sie in ein Hospiz wolle, am Wannsee.

„Seid ihr nicht auch der Meinung, dass ich genug gekämpft habe?“ Und ohne die Antwort abzuwarten: „Ich will jetzt zu Wolfgang…“

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