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Mittelschicht: Die breite Masse

Die Politik will mehr für die Leistungsträger der Gesellschaft tun. Die verdienen gut, sind trotzdem sparsam, kochen gerne und wohnen meistens auf dem Land.

Wenn Thomas Müller von seiner Arbeit als kaufmännischer Angestellter nach Hause kommt, hat er meist nur Eines im Sinn: Raus aus der Bürokluft, rein ins T-Shirt und ab auf das orangefarbene Sofa. Dort gönnt sich der 46-Jährige ein Feierabendbier, obwohl er weiß, dass er ein paar Pfunde zuviel auf den Hüften hat. Seine Frau Sabine, 43, ist dann meist schon zuhause. Sie arbeitet halbtags, um Zeit für den gemeinsamen Sohn Alexander, 15, und den Haushalt zu haben. Auf den Glastisch neben der Couch hat sie frische Blumen gestellt, daneben steht ein selbst gebackener Apfelkuchen. Auch Sabine macht es sich im Wohnzimmer gerne gemütlich, die Schrankwand und die pastellfarbene Tapete haben die Müllers gemeinsam ausgesucht, auch den Deckenfluter. Im Sommer wollen sie mit ihrem VW Passat für zwei Wochen nach Bayern oder ans Meer.

Die Müllers sind Durchschnitt, die häufigsten Deutschen. Das Eigenartige ist: Sie existieren gar nicht, es gibt sie nur in der Fantasie der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt. Um ihre Zielgruppen besser zu verstehen, haben die Werber („Geiz ist geil“) die häufigsten Lebens- und Konsumvorlieben der Deutschen studiert. Und in ihrem Bürohaus ein Wohnzimmer eingerichtet, das typisch sein soll für eine Musterfamilie. Dort, auf der Couch mit dem Glastisch, besprechen die Kreativen gerne ihre neuen Ideen.

Ihre Müllers sind die Mitte, die von der Politik derzeit heftigst umworbene Bevölkerungsgruppe. Erst wollte nur die CSU deren Steuerlast senken, jetzt brüten auch CDU und SPD über entsprechenden Plänen. Der Auslöser waren Studien, denen zufolge es eng geworden ist für die Mittelschicht. Gehörten ihr im Jahr 2000 noch 62 Prozent der Bevölkerung an, waren es laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung 2006 nur noch 54 Prozent. Schuld daran sind die Globalisierung, unsicherere Jobs und die hohe Abgabenlast. Diese wichtige Wählergruppe wollen die Parteien nicht verprellen – allerdings „wissen wir auch nicht so genau, wer tatsächlich zur Mittelschicht gehört“, gibt ein führender Großkoalitionär zu.

Ökonomen zählen zur Mitte jene Menschen, die zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens verdienen. Das sind derzeit 44 Millionen Bürger – jeder von ihnen, ob Kind oder Greis, verfügt im Jahr über gut 16 000 Euro. Rund ein Viertel aller Haushalte kommt nach Berechnungen der Marktforscher von GfK-Geomarketing zwischen 2600 und 4000 Euro netto im Monat. Etwa ein Siebtel liegt darunter mit 2000 bis 2600 Euro im Monat, ein weiteres Siebtel bei 1500 bis 2000. Ein Achtel der Haushalte kann 1100 bis 1500 Euro ausgeben. Der Rest hat entweder noch weniger – oder deutlich mehr. Die Mittelschicht ist sparsamer als der Rest des Volkes – Beamte und Angestellte legen 13 Prozent ihres Geldes auf die Seite, Selbstständige gar 20 Prozent. Bei Arbeitern sind es nur elf, bei Arbeitslosen fünf Prozent.

Die gut verdienenden Mittelschichtler leben der GfK zufolge eher auf dem Land als in großen Städten – in Westfalen, dem Emsland, im Umland von Hamburg, München oder Frankfurt am Main, zum Teil auch von Berlin. Schwach vertreten sind sie dagegen im Süden und Norden Brandenburgs, in Mecklenburg-Vorpommern, sogar im Südosten Bayerns.

Doch die Mittelschicht lässt sich nicht nur in Geldsummen und Zahlen fassen. Soziologen unterteilen die große Masse in viele Untergruppen, mit jeweils eigenen Lebensweisen, Vorlieben und Wünschen. Das Heidelberger Sozialforschungsinstitut Sinus Sociovision etwa spricht von „Milieus“. Die Mitte besteht ihrer Einteilung nach am oberen Rand aus den hoch gebildeten „Etablierten“ und „Postmateriellen“, am unteren Rand aus „Hedonisten“ oder „Konsum-Materialisten“, denen Auto und Fernseher wichtig sind. Im Zentrum steht, als größte Gruppe, die bürgerliche Mitte mit einem Anteil von 15 Prozent. Einfache bis mittlere Angestellte sind darin vertreten, die zwischen 1500 und 3000 Euro verdienen, in der Freizeit gerne kochen, gärtnern oder Freunde einladen. Sie lesen Wohn- oder Frauenzeitschriften, machen mit der Familie gerne eine Radtour oder gehen in den Zoo. Männer aus der bürgerlichen Mitte bevorzugen Wrangler-Jeans, Frauen neigen H&M-Klamotten zu.

Gerade diese Menschen hat die Krise der Mittelschicht verunsichert, sagt Friederike Müller-Friemauth. Sie leitet die Trendforschung bei Sinus. „Leute aus der Bürgerlichen Mitte berichten uns in Tiefeninterviews sehr häufig von Abstiegsängsten“, erzählt sie. Hätten die Menschen vor 20 Jahren nur den Aufstieg gesucht, seien sie über die Jahre immer vorsichtiger geworden. Heute fürchteten sie um ihre Rente und sorgten sich, „dass ihre eigenen Kinder den Lebensstandard nicht mehr werden halten können, den sie sich als Eltern erarbeitet haben“. Insgesamt stehe das Private hoch im Kurs – das zeige das „Comeback der Familie“ oder der Erfolg der Fernseh-Kochshows. Unternehmen passten sich diesem Trend an, sagt Müller-Friemauth. „Bei Finanzdienstleistungen etwa steht die Sicherheit wieder im Vordergrund.“

Doch nun, nach drei Jahren Aufschwung, könnte sich der Trend zur Sicherheit wenden – das zeigen repräsentative Umfragen von Sinus unter 2000 Menschen. Der Aussage „Was die Zukunft betrifft, vertraue ich voll auf meine eigene Leistungsfähigkeit“ stimmten 45 Prozent der bürgerlichen Mitte zu – 2007 war es 40 Prozent, 2005 nur 38. Und das Statement „Ich gehöre zu den Menschen, die – was immer auch geschieht – wieder auf die Beine kommen“, konnten 25 Prozent der Mitte-Menschen unterschreiben, nach 23 Prozent im Vorjahr. Müller-Friemauth jedenfalls glaubt, dass die Leute umdenken. „Die Menschen der Bürgerlichen Mitte haben wieder mehr Zutrauen in ihre eigene Leistung, sind optimistischer und schmieden Pläne.“

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