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Wirtschaft: Neue Währung, neue Hoffnung

Die türkische Wirtschaft steht so gut da wie nie/Warnung vor aufkommender Reform-Müdigkeit

Istanbul - „Ich hab’ schon welche“, sagt Volkan mit einem stolzen Lächeln. Wie Millionen anderer Türken hat der Istanbuler Moped-Kurier in den letzten Tagen darauf gewartet, zum ersten Mal eine Münze oder einen Schein der „Neuen Türkischen Lira“ in den Händen zu halten, die zum 1.Januar eingeführt worden ist. Jetzt hat er sie – und will sie nicht mehr hergeben. „Wir verstecken sie und geben erst mal die alten Lira-Scheine aus“, sagt er. Die alte Lira mit ihren vielen Nullen – der 20-Millionen-Schein war die Banknote mit dem höchsten Nennwert weltweit – wird noch ein Jahr lang parallel zur neuen Währung existieren und dann verschwinden. Eine neue Lira entspricht 56 Euro-Cent – bis Jahreswechsel brauchte man dafür noch eine Million Lira.

Die neuen Lira-Münzen tun schon optisch etwas fürs türkische Ego: Sie sehen mit ihrem vergoldeten Rand und der silbernen Innenfläche ähnlich aus wie der Euro. Mit der Reform habe die Lira ihre Glaubwürdigkeit zurückerhalten, sagt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Nicht nur die Währungsreform steigert das Selbstbewusstsein der Türken zum Beginn des neuen Jahres: Ihre Wirtschaft steht so gut da wie nie.

Viele Wirtschafts-Rekorde habe die Türkei in den letzten zwei Jahren gebrochen, sagte Erdogan vor der Parlamentsfraktion seiner Regierungspartei AKP. Der Export boomt, die Börsenkurse haben im vergangenen Jahr um 34 Prozent zugelegt. Die Jahresinflation 2004 war mit 9,3 Prozent so niedrig wie seit 30 Jahren nicht mehr: Eine ganze Generation von Türken erlebt zum ersten Mal einstellige Zahlen bei der Geldentwertung – in den letzten Jahrzehnten lag die Inflation zeitweise bei mehr als 100 Prozent. Für 2005 geht die Regierung von einem Wirtschaftswachstum von fünf Prozent und einer Inflationsrate von acht Prozent aus; mittelfristig strebt die Türkei die Einhaltung der Maastrichter Stabilitätskriterien an.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Doch die Türkei macht sich, sagt der Istanbuler Wirtschaftswissenschaftler Metin Ercan. „2004 war recht erfolgreich, wenn man sich die Inflation und das Wachstum ansieht“, sagt er. Mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hat Erdogans Regierung ein neues Abkommen ausgehandelt, das in den kommenden drei Jahren Kredite von zehn Milliarden Dollar (7,4 Milliarden Euro) vorsieht. Sinkende Zinsen sind ein weiterer Segen für den hoch verschuldeten türkischen Staat, der es dadurch leichter hat, sich neues Geld zu beschaffen.

Auch andere Geldquellen werden erschlossen. Bei der Privatisierung von Staatsbetrieben wie der Telefongesellschaft Türk Telekom erwarte er in diesem Jahr weitere Fortschritte, sagt Wirtschaftsexperte Ercan, der vor seiner Universitäts-Karriere selbst als Regierungsbeamter bei Privatisierungen mitwirkte. Zudem hofft die Türkei insbesondere nach der Entscheidung der EU für Beitrittsgespräche mit Ankara auf eine Zunahme der Direktinvestitionen aus dem Ausland.

Die Türkei-Politik der EU ist nicht nur für ausländische Investoren ein wichtiger Faktor. Der Industriellen-Verband TÜSIAD rät türkischen Unternehmen, sich möglichst rasch den europäischen Standards anzupassen. Zumindest in einigen Bereichen geschieht dies offenbar bereits: Fahnenhersteller in der Türkei berichten von einer regen Nachfrage nach den blau-gelben EU-Fahnen, die bald vor türkischen Firmensitzen wehen sollen.

Auch viele westliche Firmen lassen bereits zwischen Bosporus und Ararat produzieren. Insbesondere die Automobilindustrie hat sich zu einem wichtigen Standbein der türkischen Wirtschaft entwickelt. Unternehmen wie Toyota, Ford, Fiat oder Renault bauen seit Jahren Autos in der Türkei; Zentrum der türkischen Autoindustrie ist die Stadt Bursa südlich von Istanbul.

Ganz ohne dunkle Wolken ist der Himmel über der türkischen Wirtschaft aber nicht. Die gefährliche Lage im Nachbarland Irak und die weltweite Abschaffung der Handelsquoten im Textilsektor könnten Probleme bringen. Straßen- und Schienennetze sind nur unzureichend ausgebaut. Zudem ist die Türkei nach wie vor ein sehr armes Land: Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei nur knapp einem Drittel des EU-Durchschnitts. Auch ist die Korruption nach wie vor weit verbreitet und schreckt Investoren ab.

Die größte Gefahr für den Aufschwung geht nach Expertenansicht aber nicht von Bakschisch-Beamten aus, sondern von einer möglichen Reform-Müdigkeit in Ankara. „Die wirtschaftlichen Reformen müssen vollendet werden“, fordert Wirtschaftsexperte Ercan. Ministerpräsident Erdogan kennt die Befürchtungen, der Reformschwung seiner Regierung könnte bald erlahmen. „Wir werden nicht sagen: ,O.k, das war’s jetzt’“, verspricht der Premier.

Selbst bei einer Fortsetzung des Reformprozesses wird es aber keine Wunder geben. Die EU-Zusage für Beitrittsgespräche allein werde nicht ausreichen, um neue Milliardeninvestitionen aus dem Ausland anzuziehen, sagt Ercan. „Es gibt keine schnellen Lösungen, das braucht Zeit.“ Mittelfristig wird die Türkei nur durch eine beharrliche Stärkung des Rechtsstaates und eine Bekämpfung der Korruption ihre Stellung als Investitionsstandort festigen können. Ercan rät westeuropäischen Investoren und Unternehmern jedoch, die Chancen, die die Türkei bietet, sorgfältig zu prüfen: „Sie sollten die Gelegenheit nicht verpassen.“

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