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Wirtschaft: Wolfram Lucke

Geb. 1921

Spezialgebiete: Lieferscheine ausstellen, Schuldner mahnen Und Gott schuf die Holzhandlung Lucke. Und er sah, es war gut.

Theologisch mag das zweifelhaft sein, aber anders ist nicht zu erklären, warum Christian Lucke Mitte des 19. Jahrhunderts die Holzhandlung von seinem Onkel Polte übernahm und später an seinen Sohn Max weiterreichte, der sie dann an seinen Sohn Walther übergab, der wieder an seine Söhne Manfred und Wolfram, letzterer schließlich an seinen Schwiegersohn Johannes.

„Der Herrgott möge auch weiterhin seine gütige Hand über dem Geschick der Holzhandlung Lucke walten lassen“, schrieb Wolfram Lucke zum 175. Firmenjubiläum. Das war 2002 und markierte das Ende eines zehnjährigen Gerichtsstreits um den Firmenbesitz in Treptow, der nach dem Krieg enteignet worden war. Den Streit verloren die Luckes, aber nicht ihre Zuversicht. Wolfram konnte sich noch intensiver seinen Enkelkindern widmen. Ein Foto zeigt den 80-Jährigen auf allen Vieren auf dem Teppich, während er die Statik eines Bauklotzturmes überprüft. Die Bauklötze waren von der gleichen Firma, die schon Wolframs Kinderstuben-Holzlager beliefert hatte.

Er schätzte Dinge, die so bleiben, wie sie sind. Auf dem alten Schreibtisch im Kontor steht noch die Brunsviga-Rechenmaschine von Walther Lucke, ein Apparat aus Metall, vom vielen Anfassen blank gerieben. Mit der linken Hand den Zehner einstellen, mit der Rechten den Einer, einmal die Kurbel drehen, und oben erscheinen die neuen Zahlen. Der Hersteller garantierte fehlerfreie Addition.

Den Rom-Baedeker, der leicht nach Öl riecht, weil auf den Bücherkisten nach dem Krieg Fässer lagerten, brachte Max Lucke anno 1908 in die Familie. Walther Lucke gab ihn seinem Sohn Wolfram, als der 1944 an die italienische Front geschickt wurde, „für alle Fälle“. Wolfram fand das etwas merkwürdig, „aber so war Vati eben.“ Und tatsächlich, im Wirrwarr der Marschbefehle fand sich ein freier Tag, an dem Wolfram die Ewige Stadt mit Großvaters Baedeker erkunden konnte. Den totalen Krieg überstand Wolfram, ohne zu kämpfen. Seine Kameraden nannten ihn Felix – den Glücklichen. Nach dem Krieg stieg er natürlich in die Holzhandlung ein, genau wie sein Bruder Manfred.

Der erste Holzlagerplatz der Luckes war dort, wo heute das Pergamon-Museum steht. Auf den zweiten Lagerplatz haben sie später die „Treptowers“ gestellt. Den dritten, am Landwehrkanal auf Treptower Seite, haben erst die Alliierten zerbombt und dann die Kommunisten weggenommen. Den vierten, am Landwehrkanal auf Kreuzberger Seite, wollten die Bürokraten nach der Wende räumen lassen, um dort ein großes Behördenhaus ans Wasser zu bauen. Wolfram Lucke ging zum Behördenchef, um zu protestieren. Der Chef war neu in Berlin und wusste nichts von den Luckes und ihrer langen Geschichte. Er sagte: „Das, Herr Lucke, ist ihr persönlicher Preis für die Wiedervereinigung.“ In diesem Moment wäre Wolfram Lucke, der von seiner Familie als fröhlicher, kultivierter und gütiger Mensch beschrieben wird, dem Behördenchef fast an die Gurgel gesprungen.

Das Behördenhaus ist nie gebaut worden. Und Wolfram Lucke konnte weiter seine Holzstapel ablaufen, vorbei an den bröckelnden Backsteinmauern und den alten Bäumen, immer die blaue Baskenmütze auf dem Kopf. Seine Spezialgebiete waren die handschriftliche Ausfertigung von Lieferscheinen und die telefonische Mahnung von Schuldnern. Berechtigte Geldforderungen, die nicht beglichen wurden, empfand Wolfram Lucke als persönliche Beleidigung. Da konnte er sehr ungemütlich werden.

Und trotzdem sagte er nicht, früher sei alles besser gewesen. Er wollte nur nicht akzeptieren, dass altbewährte Grundsätze im beschleunigten Kapitalismus nicht mehr gelten sollen. Zum Beispiel, dass man seine Mitarbeiter gut behandelt, damit sie gut arbeiten und bis zur Rente bleiben. Oder bis zum Tod. Die Buchhalterin Frieda Schade erlitt 1993 im Kontor einen Schlaganfall. Eingestellt hatte sie Wolframs Vater Walther im Jahr 1928, kurz vor der Weltwirtschaftskrise.

Kontinuität ist den Luckes ein Grundbedürfnis. Da nimmt es nicht wunder, dass Wolfram seiner Ehefrau Erika, die er schon als Nachbarskind kennen gelernt hatte, bis zu seinem Tod die Treue hielt. Kontinuität und Langeweile sind ja nicht dasselbe. Wolfram schrieb ständig Geschichten auf, die er als Oster- oder Weihnachtsnovellen der Familie zum Lesen gab. Mitarbeiter bekamen zu Geburtstagen etwas Geld und ein Gedicht ausgehändigt. Mit 70 begann er, zusammen mit Erika Finnisch zu lernen, einfach so. Da konnte er schon Englisch, Französisch und Russisch. Und natürlich Latein.

Als er 80 wurde, blickte er nochmal in seine Jugend zurück, ins „Jungenarbeitszimmer“, ins „Jungenschlafzimmer“ und ins „Trinkzimmer“. Das Haus am Treptower Park, in dem die Luckes vor dem Krieg zur Miete wohnten, großbürgerlich mit Dienstpersonal auf 400 Quadratmetern, wurde verkauft. Die nachgeborenen Luckes machten Fotos der leeren Räume, um sie mit Aufnahmen von früher zu vergleichen. Die Bilder streben auseinander, sie passen nicht zusammen. Ein Traditionsbruch, eine Diskontinuität. Die schweren Eichenmöbel auf den alten Fotos gibt es noch, nur stehen sie jetzt woanders. Die mit Schnitzwerk verzierte Eckbank aus dem Trinkzimmer hat es ins Kontor verschlagen.

Wer alte Dinge hütet, widerstrebt ihrer Vergänglichkeit. Die eigene Endlichkeit bleibt davon unberührt. Wolfram Lucke starb innerhalb weniger Wochen an Krebs. Kurz darauf starb auch seine Frau Erika. Einer wollte ohne den anderen nicht sein.

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