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Hafenarbeiter demonstrieren mit einem Transparent für höhere Löhne. Verdi will für die Beschäftigten der Seehäfen bis zu 14 Prozent mehr Geld durchsetzen.

© picture alliance/dpa

Verdi-Chef Werneke zur Konzertierten Aktion: "Die Not ist riesengroß"

Der Gewerkschafter über die Situation einkommensschwacher Haushalte, weitere Entlastungspakete und die anstehenden Tarifrunden.

Herr Werneke, was bringen Sie mit zur Konzertierten Aktion?

Große Neugierde. Wir werden an diesem Montag vom Kanzler persönlich erfahren, was er sich vorstellt von dieser konzertierten Zusammenarbeit, wie es im Einladungsschreiben heißt.

Was stellen Sie sich vor?

Die Gestaltung eines weiteren Entlastungspakets ist für mich das wichtigste Thema. Angesichts der Gaspreise aber auch der hohen Lebensmittelpreise muss das im Herbst kommen und bis weit ins nächste Jahr wirken. Die bisherigen Entlastungspakete reichen nicht aus.

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Die hatten immerhin ein Volumen von 30 Milliarden Euro.

Das reicht nicht, es muss nachgelegt werden. In manchen Bereichen des öffentlichen Dienstes beispielsweise, im Handel oder in der Abfallwirtschaft verdienen vielen Kolleginnen und Kollegen nur um die 2500 Euro, manche noch weniger. Da ist die Not riesengroß.

Sie haben also nur Forderungen im Gepäck?

Wir haben immer die Interessen unserer Mitglieder im Gepäck – ob wir Tarifforderungen durchzusetzen versuchen oder der Politik Vorschläge machen, die für den sozialen Ausgleich und Zusammenhalt wichtig sind.

"Die Kreditaufnahme für den Staat bleibt günstig" 

Wegen Corona und Krieg sind die öffentlichen Kassen leer, und mit steigenden Zinsen wird auch die Kreditaufnahme teurer. Woher kommt das Geld für das dritte Entlastungspaket?

Es wird Geld geben müssen, weil der Druck so groß ist. Die steuerpolitischen Möglichkeiten sind dank der Verweigerungshaltung der FDP sehr übersichtlich. Also werden wir das über eine höhere Nettoneuverschuldung lösen müssen. Es ist der einzige Weg. Trotz der Zinswende der EZB bleibt die Kreditaufnahme für die Bundesrepublik günstig. Was dann aus der Schuldenbremse wird im nächsten Jahr, das werden wir sehen. Das hängt vom weiteren Verlauf im Herbst ab, konkret von den Gaslieferungen aus Russland.

Frank Werneke führt seit 2019 die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, mit 1,9 Millionen Mitglieder die zweitgrößte Gewerkschaft nach der IG Metall.
Frank Werneke führt seit 2019 die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, mit 1,9 Millionen Mitglieder die zweitgrößte Gewerkschaft nach der IG Metall.

© dpa

Was gehört in ein 3. Entlastungspaket?

Energiegeldzuschuss und Kindergeldzuschlag sind die wirksamsten Instrumente in den ersten Paketen, da sie einkommensschwachen Haushalten relativ stärker helfen. Jetzt leiden viele Menschen vor allem unter dem teuren Gas, deshalb sollten wir hier ansetzen.

Wie?

Man könnte eine bestimmte durchschnittliche Verbrauchsmenge je nach Haushaltsgröße festlegen – zum Beispiel 12000 kWh für einen Vier-Personen-Haushalt – und dann die Preise von 2021 und 2022 vergleichen. Was über dem Niveau von 2021 liegt, sollte der Staat übernehmen. Das wäre ein Gaspreisdeckel, wie ihn andere europäische Länder auch aufsetzen.

"Wir werden Wohlstandsverluste nicht hinnehmen" 

Teilen Sie die Einschätzung von Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, dass die fetten Jahre vorbei sind und alle den Gürtel enger schnallen müssen?

Die Frage ist, wer den Gürtel enger schnallt. Im Moment sinken die verfügbaren Einkommen durch die stark steigenden Preise, das tut dem Arbeitgeberpräsidenten deutlich weniger weh als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit mittleren oder eher niedrigen Einkommen. Grundsätzlich sind wir als Gewerkschaft nicht bereit, Wohlstandsverluste einfach hinzunehmen.

Wenn wir wegen ausbleibender Gaslieferungen in die Rezession rutschen, geht es eher um Arbeitsplatzsicherheit als um Einkommenserhöhungen.

Danach sieht es nicht aus. Die Wirtschaft wächst derzeit. Und wenn ich mir Handelskonzerne oder Logistikunternehmen anschaue, dann verdienen die prächtig. Warum sollen unsere Mitglieder vor dem Hintergrund Wohlstandsverluste akzeptieren? Richtig ist aber: Die Zeit der günstigen fossilen Brennstoffe ist vorbei, das ist eine Herausforderung, deshalb sind beschleunigte Investitionen in erneuerbare Energien notwendig.

"Einmalzahlungen bringen uns nicht weiter"

Olaf Scholz erwägt eine Wiederbelebung der Coronaprämie, also Sonder- oder Einmalzahlungen für Arbeitnehmer, die von Steuern und Abgaben befreit sind. Warum halten Sie nichts davon?

Wenn solche Einmalzahlungen verbunden werden mit der Erwartung an die Tarifparteien, sich bei der prozentualen Tariferhöhung zurückzuhalten, bin ich dagegen. Einmalzahlungen bringen uns in der derzeitigen Situation nicht weiter, weil wir dauerhaft steigende Preise haben. Und dauerhaft steigende Preise müssen mit dauerhaft wirkenden Einkommenserhöhungen ausgeglichen werden.

Keine Gewerkschaft wird die diesjährigen Inflationsrate von sieben Prozent ausgleichen können.

Das werden wir dann ja sehen. Im Bereich der Dienstleistungsbranchen haben wir einen akuten Arbeitskräftemangel und ein Verdienstniveau, das häufig strukturell zu gering ist. In solchen Bereichen, wie derzeit zum Beispiel in den Seehäfen und bei den am Boden-Beschäftigten der Lufthansa, wollen wir Erhöhungen mindestens auf dem Niveau der Inflationsrate. Besonders konzentrieren wir uns auf die unteren Einkommen, für die wir Mindestbeträge anstreben. 

"Die Beschäftigten erwarten kräftige Tariferhöhungen"

Sie selbst haben Tarifverträge verhandelt und unterschrieben mit Einmalzahlung. Im vergangenen Herbst beispielsweise für mehr als eine Million Tarifbeschäftigte der Länder, die Anfang 2022 eine Sonderzahlung von 1300 Euro bekamen, aber eine dauerhafte Erhöhung um 2,8 Prozent erst ab Ende 2022. Das ist doch genau das, was Olaf Scholz im Kopf hat.

Das sind Tarifabschlüsse der Vergangenheit. Das Instrument der Einmalzahlung taugt nicht in Zeiten anhaltend hoher Preissteigerungen. Anders als 2021 können wir heute nicht mehr von einer vorübergehenden Preissteigerungsrate ausgehen. Am Ende müssen sich die hohen Preise auch in den Lohntabellen wiederfinden. Einmalzahlungen taugen zum Beispiel zur Überbrückung von Leermonaten, ersetzen aber keine dauerhaften Erhöhungen.

Können Sie dieses Ziel jetzt schon ausrufen, obwohl die Tarifverhandlungen für die mehr als zwei Millionen Beschäftigten der Kommunen und beim Bund erst Anfang 2023 anstehen?

Ja. Ferner werden im kommenden Jahr die Tarifverträge bei der Post und im Handel verhandelt. Die Beschäftigten erwarten alle kräftige Tabellenerhöhungen, um die steigenden Preise einigermaßen bewältigen zu können.

"Entlastungspakete wirken vorübergehend" 

Im Herbst nächsten Jahres wollen Sie wiedergewählt werden, da können hohe Tarifabschlüsse in den Monaten zuvor nicht schaden.

Deshalb teile ich ja auch Ihre Begeisterung für Einmalzahlungen nicht.

Trotzdem brauchen Sie den Staat respektive ein weiteres Entlastungspaket, da Sie die Inflation nicht voll ausgleichen können: Das Paket nimmt Druck von der Tarifpolitik.

Auch Entlastungspakete sind vorübergehende Maßnahmen. Das schöne Energiegeld des Entlastungspakets II hilft uns in den Verhandlungen im Januar wenig. Alle Beschäftigten, nicht nur die im Organisationsbereich von Verdi, haben große Erwartungen an ihre Gewerkschaften. Unsere Aufgabe ist es, die Einkommen unserer Mitglieder mindestens stabil zu halten. Das gelingt aber auch nur mit dem Engagement der Mitglieder.

"Die Leute sparen sich auch den Gewerkschaftsbeitrag" 

Sind die Leute in der Krise streikbereiter als in normalen Zeiten?

Das lässt sich nicht verallgemeinern. Wo wir viele Mitglieder haben, zum Beispiel in den Häfen, bei der Post oder in den Kitas, da erreichen wir mehr als in Bereichen mit weniger Mitgliedern, wie etwa in den privaten Banken.

Und Verdi verliert weiter Mitglieder.

In den ersten fünf Monaten hatten wir mit knapp 50 000 Eintritten mehr als im Vorjahreszeitraum, liegen aber immer noch unter dem Niveau vor Corona. In diesem Jahr gibt es viele Austritte, weil die Leute sparen müssen – auch den Gewerkschaftsbeitrag. Die Menschen drehen in dieser Zeit den Euro dreimal um.

"Tarifbindung ist im Koalitionsvertrag unterbelichtet" 

Wir reden die ganze Zeit über Tarifpolitik, doch nur noch knapp die Hälfte der Beschäftigten fällt überhaupt unter den Geltungsbereich von Branchentarifverträgen. Erwarten Sie von der Ampel Unterstützung in diesem Punkt?

Das Thema Tarifbindung ist völlig unterbelichtet im Koalitionsvertrag, einer der größten Schwachpunkte. Aber noch im zweiten Halbjahr soll es im öffentlichen Vergaberecht, Stichwort Tariftreuegesetz, einen ersten Vorschlag geben. Und die neue EU-Richtlinie macht uns Hoffnung: Wenn in einem Mitgliedstaat die Tarifbindung unter 80 Prozent liegt, dann muss die jeweilige Regierung einen Aktionsplan vorlegen. Auf den bin ich gespannt.

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