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Wissen: Ab wann ist der Mensch ein Mensch?

Beim Streit um den Schutz von Embryonen gibt die christliche Tradition keine verlässliche Antwort

Gelegentlich geraten sehr grundsätzliche ethische Fragen in die Tagespolitik. Grundsätzliche Fragen müssen in Ruhe bedacht werden, aber Tagespolitik ist immer hektisch. Derzeit ist es wieder die Frage, ab wann der Mensch ein Mensch ist. Sie steht hinter der Diskussion um eine Novellierung des Stammzellen-Import-Gesetzes. Also bleibt nichts anderes übrig, als eine grundsätzliche Frage in tagespolitischem Format aufzuwerfen. Der Streit hat Züge eines Kulturkampfes. Es scheint so, als stünden sich hier christliche und säkulare Positionen gegenüber. Das ist jedenfalls so nicht richtig.

Die Bibel und die christliche Tradition geben nämlich auf diese Frage gar keine altbewährte Antwort. Die Kirchenväter haben sich in dieser Frage einfach den Erkenntnissen der antiken Embryologie angeschlossen und die besagte, dass der Embryo in den ersten dreißig oder vierzig Tagen unbeseelt, also noch kein Mensch sei. Diese Auffassung haben namhafte katholische Theologen auch im 20.Jahrhundert noch vertreten und die jüdischen und islamischen Religionsgelehrten halten immer noch daran fest, weshalb in Israel und in islamischen Ländern Stammzellenforschung kein großes Problem darstellt. Dass es auch beim Menschen Eizellen gibt, wurde erst 1827 entdeckt, die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle erst 1875. Die katholische Kirche versteht es als eine naturwissenschaftliche Erkenntnis, dass mit dieser Verschmelzung das Menschsein beginnt, weil damit die genetische Identität festgelegt ist und erklärt deshalb, dass bereits die befruchtete Eizelle denselben Schutz wie ein geborener Mensch beansprucht.

In unserer Tradition ist die Frage vorgeburtlicher menschlicher Wesen ausschließlich im Zusammenhang mit der Abtreibung diskutiert worden. Abtreibung ist die Verhinderung einer Geburt. Dass es vor Beginn der Schwangerschaft bereits ein menschliches Wesen gibt, das sich noch nicht im Uterus, sondern im Eileiter befindet, war bis 1875 unbekannt. Auch nach dessen Entdeckung war die Blastozyste, menschlichem Zugriff entzogen, also bedurfte es auch keiner ethischen Diskurse und keiner rechtlichen Regelungen, die es für die Blastozyste im Eileiter bis heute nicht gibt.

Diese Blastozyste ist eine Kugel von einem Millimeter Durchmesser, die sich bei der Einnistung in den Uterus teilt in das Versorgungssystem (Eihäute und Plazenta) und den „Embryoblasten“, aus dem der Mensch entsteht. Durch die künstliche Befruchtung, die ansonsten kinderlosen Paaren zu Nachwuchs verhelfen kann, ist dieser früheste Status eines menschlichen Wesens ins Reagenzglas verlegt worden und dadurch menschlichem Zugriff ausgesetzt. Dadurch entstehen neue Fragen, auf die uns keine Tradition Antworten gibt.

Nun liegt es nahe, die Blastozyste ebenso zu beurteilen wie den im Uterus eingenisteten Embryo und ihn ebenso zu schützen, zumal für beide Stadien derselbe Ausdruck Embryo üblich ist. Das ist aber nicht korrekt. Während nämlich das Verhältnis zwischen einer stabilen Schwangerschaft und einer Geburt nahe bei 1:1 liegt, wenn nicht eingegriffen wird, gelangen auf natürlichem Wege nur drei von zehn Blastozysten zu einer stabilen Schwangerschaft. Etwa zur Hälfte liegt das an genetischen Defekten, die eine Schwangerschaft ausschließen, zur anderen Hälfte daran, dass die Frau nicht „empfangsbereit“ ist, zum Beispiel durch Stress. Die künstliche Befruchtung kann diese natürliche Gegebenheit nicht aus der Welt schaffen. Deshalb ist es schlicht falsch, wenn behauptet wird, jeder Embryo – einschließlich der Blastozyste – könne geboren werden.

Bei der künstlichen Befruchtung führt also die Implantation einer einzelnen Blastozyste nicht garantiert zu einer Schwangerschaft. Da die Prozedur gegebenenfalls wiederholt werden muss, werden mehrere Eizellen befruchtet. Wenn aber doch der erste Versuch gelingt, bleiben Blastozysten übrig. In Deutschland wollte man das durch Gesetz verhindern – mit der Folge, dass alle Blastozysten implantiert werden müssen, in der Hoffnung, dass wenigstens eine zu einer Schwangerschaft führt, aber mit der misslichen Folge einer Häufung von Mehrlingsgeburten, die ihre eigenen Risiken haben. Man kann eben nicht per Gesetz die Natur kommandieren.

Und nun ist die heiß umstrittene Frage, welchen Status überzählige Blastozysten haben. Da sie keine Mutter finden, können sie auch nicht geboren, also nur vernichtet werden. Darf man an diesen Wesen auch forschen, also Stammzelllinien aus ihnen gewinnen, mit denen man möglicherweise zu Erkenntnissen kommt, die bisher unheilbare Krankheiten heilbar machen? So heißt exakt die heiß umstrittene Frage. Wie lässt sie sich klären?

Ich möchte denen widersprechen, die hier keinerlei Bedenken haben und die Blastozysten schlicht als Zellhaufen bezeichnen. Jeder von uns war einmal eine Blastozyste, deshalb verdient sie jeden Respekt. Aber nicht jede Blastozyste wird zu einem geborenen Menschen.

Menschenwürde sprechen wir zuerst jedem geborenen Menschen (natus) zu und deshalb auch jedem, der geboren werden kann (nasciturus). Gegen diejenigen, die das bestreiten, habe ich zwei Argumente. In Indien wurde voriges Jahr ein Mann an einer Geschwulst im Bauch operiert. Es stellte sich heraus, das die Geschwulst sein degenerierter Zwilling war, den er im Mutterleib umwachsen und von seiner Nabelschnur getrennt hatte. Er hatte sogar Haare. Von dem Moment an, da dieser Zwilling nicht mehr geboren werden konnte, war er auch kein Träger der Menschenwürde mehr.

Das andere Argument gehört in die Science Fiction. Eine Schwangere kommt zum Arzt und der sagt ihr: Ihr Kind hat keine Lunge, würde also nach der Geburt sterben. Aber wir können ja heute das weitere Wachstum stoppen und die Geburt verhindern. Ihr Kind wird also, solange Sie leben, in ihrem Uterus weiter leben können. Frage: Wird diese Frau dem Arzt dafür danken, dass er das Leben ihres Kindes retten wird? Mitnichten. Ich folgere daraus: ein Wesen, das nie geboren werden kann, kann auch nicht als Träger der Menschenwürde verstanden werden.

Überzählige Blastozysten sind demnach keine Träger der Menschenwürde, weil sie nicht geboren werden können, denn sie finden keine Mutter. Niemand wird geboren ohne seine Mutter.

Nun mache ich noch eine Gegenprobe. Nehmen wir an, jede befruchtete Eizelle sei bereits als Träger der Menschenwürde zu verstehen – sind wir bereit, die Konsequenzen zu tragen? Dann müssten wir nämlich sagen: die meisten Menschen (sieben von zehn) werden nie geboren. So hatten wir das Wort Mensch bisher nicht verstanden. Und wo sind diese Ungeborenen? Nur im Zusammenhang mit Reinkarnationstheorien würde so ein Satz sinnvoll sein. Weiter: Die Kindersterblichkeit liegt unaufhebbar bei 70 Prozent. Das hatten wir bisher auch nicht so gesehen. Schließlich: bei der künstlichen Befruchtung entstehen unvermeidlich überzählige Blastozysten, auch in Deutschland, dann nämlich, wenn alles für die künstliche Befruchtung vorbereitet ist, sie aber nicht durchgeführt werden kann, etwa aufgrund eines Unfalls.

In Deutschland sind das nur wenige (die Zahl 70 wird genannt). Weltweit sind aber zighunderttausende überzählige Embryonen tief gefroren gelagert und müssen nach fünf Jahren vernichtet werden, da sich dann genetische Defekte einstellen. Wollen wir uns wirklich durch eine sprachliche Neuerung, die diese Blastozysten als embryonale Menschen bezeichnet statt als menschliche Embryonen, daran gewöhnen, dass es überzählige Menschen gibt? Eben dies sollte durch Art. 1 des Grundgesetzes ausgeschlossen sein. Wir sind verantwortlich nicht nur für den Schutz der Menschenwürde, sondern auch für den Schutz der Verständlichkeit dessen, was wir unter Menschenwürde verstehen. Die Bedeutung des Wortes Menschenwürde wird verunklart, wenn wir uns daran gewöhnen, dass es Träger der Menschenwürde gibt, die man nur dauerhaft tiefgefroren lagern oder vernichten kann.

Der Autor ist Professor für Theologie an der Humboldt-Universität.

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