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Ärzte: Gewagte Operationen in Haiti

Nach dem Erdbeben in Haiti ist der Chirurg Matthias Richter-Turtur auf die Insel geflogen, um zu helfen – mit Steinen und Schrauben.

Matthias Richter-Turtur hat viele Fotos mitgebracht aus Haiti. Er hat sie schon ein paar Mal gezeigt, und dennoch erstaunt ihn eines immer wieder: Es zeigt Kartons mit Hilfslieferungen aus den USA, gefüllt mit medizinischem Gerät, darauf ein Aufkleber: „Non repairable“, „nicht zu reparieren“, steht dort. Und: „Diese Geräte sind für einen chirurgischen Gebrauch unbrauchbar.“ Ihm sei es vorgekommen, sagt Richter-Turtur, als hätten die amerikanischen Krankenhäuser einfach mal ihre Keller geleert. „So was kommt dann als Spende nach Haiti.“ Richter-Turtur schüttelt den Kopf.

Fast den ganzen Februar hat der 62-jährige Chirurg in Haiti gearbeitet und Erdbebenopfer versorgt, für Humedica, eine kleine deutsche Hilfsorganisation aus Kaufbeuren. Am häufigsten hatte Richter-Turtur Knochenbrüche zu behandeln. In Deutschland würde man solche Brüche operieren, mit Marknageln. „Aber unter den hygienischen Bedingungen in Haiti war das nicht möglich“, sagt er. Also befestigten die Helfer ein äußeres Gestänge mit Schrauben oberhalb und unterhalb der Fraktur, um den Knochen ruhigzustellen.

Mit Chirurgie in Entwicklungsländern kennt der Arzt sich aus: Er ist Vorsitzender der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungsländer. Dabei arbeitet Richter-Turtur eigentlich als Chirurg an den Münchner Isar-Kliniken. Sein Hauptgebiet ist die orthopädische Unfallchirurgie, aber im Grunde ist er ein Allgemeinchirurg ohne Spezialgebiet. „Das gibt es in Deutschland kaum noch“, sagt er. Für die Arbeit in einem Entwicklungsland ist aber gerade das von Vorteil: Ein Arzt in einem kleinen Kreiskrankenhaus müsse 20 Spezialisten in einem sein, sagt Richter-Turtur. Seit seinem Studium in den 70ern ist er immer wieder nach Afrika gefahren, um dort zu helfen, nach Burkina Faso, Kenia, Ghana. Und jetzt Haiti, sein erster Einsatz in einem Katastrophengebiet.

Gleich nach dem Beben hat er sich bei Humedica gemeldet, die Organisation war schon nach vier Tagen vor Ort. Drei Wochen nach dem Beben saß er dann in einem Ferienflieger in die Dominikanische Republik, mit einem Team aus Krankenschwestern, Studenten, Rettungssanitätern und Medizinern sowie 150 Kilo Übergepäck.

Mit einem Auto erreichten sie zwei Tage später Port-au-Prince: zerstörte Häuser, kaputte Straßen, Frauen, die in der Schlange standen für Wasser und Essen. Das kleine Kinderkrankenhaus, in dem Humedica arbeitete, war nur zum Teil beschädigt worden, ein kleiner OP-Raum war benutzbar, der Hof wurde zur Station mit provisorischen Zelten. Das Röntgengerät funktionierte noch, allerdings musste jedes Bild per Hand entwickelt werden. Den Rest des Materials hatte Humedica herangeschafft: Fixateure, Kompressen, Verbandmaterial, Antibiotika, Schmerzmittel, Narkosemittel.

Von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags stand Matthias Richter-Turtur im OP, in Turnschuhen. „Unsere Ansprüche von Sterilität sind dort kaum zu realisieren“, sagt er. Ungefähr sieben Patienten operierte er pro Tag, Brüche, Abszesse, Blinddarmentzündungen, Leistenbrüche. Dabei musste er improvisieren: Richter-Turtur zeigt das Bild eines Patienten mit einem Oberschenkelbruch. Das Bein ist durch einen Streckverband ruhiggestellt. Die verschobenen Knochen müssen durch das Gewicht auseinandergezogen und ausgerichtet werden. In Deutschland würde das durch ein Rollensystem geschehen, in Haiti behalf sich Richter-Turtur mit einem Mauerstein, der über ein Band am Fuß des Patienten befestigt wurde. „Auch in Deutschland wurden solche Brüche vor 50 Jahren nicht immer operiert“, erklärt Richter-Turtur, „bei Kindern werden Brüche dieser Art häufig noch so behandelt.“ Diese Methode ist einfach und effektiv, die Patienten müssen allerdings einige Wochen liegen, damit der Knochen heilen kann. In vielen Fällen muss aber auch in Haiti ein anderes Verfahren, nämlich ein sogenannter „Fixateur externe“ angewendet werden: Dabei werden Schrauben durch die Haut in den Knochen eingedreht und mit einem äußeren Gestänge verbunden.

Neben Knochenbrüchen kümmerte er sich hauptsächlich um schwere Quetschwunden, typische Verletzungen nach Erdbeben: Körperteile, die über einen längeren Zeitraum starkem Druck ausgesetzt waren, so dass sich Wundnekrosen gebildet haben, oft tiefe offene Stellen. „Wenn diese Druckstellen direkt über dem Nerv liegen und diesen beschädigen, kann es zu Lähmungen kommen.“ Bei großflächigen Wunden transplantierte Richter-Turtur von einer gesunden Stelle kleine Hautstücke, die dann anwachsen und die Wunde schließen.

Gab es Situationen, in denen er sich hilflos fühlte? Ja, sagt er, zum Beispiel, als er das junge Mädchen behandelte, dessen linker Arm amputiert werden musste, der rechte war gelähmt, eines ihrer Beine war hinten bis zur Ferse mumifiziert. „Aber ich wusste auch, dass es in dieser Situation keine andere Möglichkeit gibt. Wir haben versucht, alle Patienten optimal zu versorgen.“ Natürlich sind das schockierende Eindrücke, sagt er, „aber der Blick des Fachmannes ist manchmal ein anderer als der des Laien: Ich sehe eine schwer verletzte Hand, muss dabei aber auch beurteilen: Sind da noch Durchblutungschancen da? Ich sehe das Leid, aber auch die Chancen. Sonst könnte ich meinen Beruf nicht ausüben.“

Vor über 30 Jahren, Ende der 70er, war Richter-Turtur gerade mit dem Medizinstudium fertig und besuchte seinen Bruder in Obervolta, dem heutigen Burkina Faso, wo dieser als junger Arzt arbeitete. An einem Tag kam ein Patient mit einer Kiefersperre in das kleine Krankenhaus. „Wir waren drei in Deutschland ausgebildete Ärzte“, erzählt Richter-Turtur, „und wir waren nicht in der Lage, diesem Patienten zu helfen. Wir waren zu spezialisiert dafür.“ Dann kam ein alter afrikanischer Pfleger, griff dem Patienten in den Mund, drückte den Kiefer herunter, und die Sache war erledigt. Ein Schlüsselerlebnis für den jungen Arzt: „Damals habe ich gedacht: Mit einfachen Methoden kann man sehr viel erreichen – eine Erkenntnis, die mich seitdem begleitet.“

Jeder angehende Arzt, meint Richter-Turtur, sollte neben der hochqualifizierten Medizin auch wissen, unter welchen Bedingungen Ärzte in Entwicklungsländern arbeiten. „In Deutschland ausgebildete Ärzte sind angewiesen auf Computertomogramme, MRTs, beste OP-Bedingungen. Wenn die in einem afrikanischen Kreiskrankenhaus stehen, schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen und ergreifen die Flucht.“

Dabei ist die Hilfe vor Ort so wichtig. Mit „Menschen für Menschen“ hat Richter-Turtur in Äthiopien ein Krankenhaus renoviert. Immer wieder hat er junge afrikanische Ärzte, vor allem aus Ghana, zur Facharztausbildung nach Deutschland geholt. Ihn ärgert, dass die kurative Medizin zu einem Stiefkind der Entwicklungspolitik geworden ist. Dabei ist die zweithäufigste Todesursache in Entwicklungsländern die durch Unfälle. Und auch Verletzungen können folgenschwer sein: „Wenn ein Bauer in Äthiopien sich eine Sprunggelenkverletzung zuzieht, die nicht oder schlecht behandelt wird, dann ist er sein Leben lang gehbehindert. Als Bauer auf dem Land ist das eine Katastrophe.“

Jeder Mensch, auch im periphersten Krankenhaus, hat ein Recht darauf, sicher und schmerzfrei behandelt zu werden, „das ist unser wichtigstes Anliegen“. Dass die realen Zustände in vielen Ländern weit davon entfernt sind, weiß der Münchner Chirurg, und es ist eine Motivation für sein langjähriges Engagement. „Natürlich kann man als Chirurg in Deutschland Hervorragendes leisten“, sagt er. „Aber wenn man es nicht selber macht, macht es eben ein anderer. Man ist absolut ersetzbar. Und ich wollte mich immer nützlich machen.“

Seine Patienten in München zeigen dafür Verständnis: Richter-Turtur musste einige angesetzte Termine verschieben, um nach Haiti zu gehen. Alle Patienten akzeptierten das, ohne sich zu beschweren.

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