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Auf Hilfe angewiesen. Viele Demenzkranke können ihr Leben nicht mehr allein bewältigen.

© dpa-Zentralbild

Alternde Gesellschaft: Demenz als Strafe?

Immer mehr Menschen werden dement, die Angst davor wächst. Reimer Gronemeyers neues Buch schürt sie noch - etwa mit der These, dass die Krankheit eine Folge unseres Lebenswandels sei.

Gunter Sachs hat vor zwei Jahren seinen Suizid mit der Angst vor Demenz begründet. „Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten“, schrieb der Industriellenerbe, Fotograf und Kunstsammler, bevor er sich erschoss.

Die Konsequenz, die Sachs aus seiner vermeintlichen Krankheit zog, die niemand bei ihm diagnostiziert hatte, wirft ein düsteres Licht auf die Angst der Gesellschaft vor Kontrollverlust. Diese Angst ist verständlich, schaut man sich die Zahlen an, die gerade im Fachjournal „Neurology“ veröffentlicht wurden. In den USA wird die Zahl der Erkrankten von 4,7 Millionen 2010 schätzungsweise auf 14 Millionen im Jahr 2050 steigen. In Deutschland wird sich die Zahl nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft von derzeit 1,4 Millionen auf drei Millionen Patienten verdoppeln. Gern wird von einer „Epidemie“ geredet.

Wenn man diese Zahlen zugrunde legt und die Angst als natürliche Begleiterin beim Thema Demenz annimmt, dann – so sollte man meinen – müssen sich die Experten besonders sensibel verhalten. Der Soziologe und Theologe und Altersexperte Reimer Gronemeyer geht in seinem Buch „Das 4. Lebensalter“ den anderen Weg. Er macht noch mehr Angst.

Schon der Untertitel ist Provokation und These zugleich: „Demenz ist keine Krankheit.“ Gronemeyer nimmt von vornherein in Kauf, dass er die „Fachleute“, also Ärzte, Pfleger, ja eine ganze Gesundheitsbranche, gegen sich aufbringt. Seine Kritik: Demenz darf keine normale Alterserscheinung, sondern muss eine Krankheit sein, „weil daraus die gesellschaftliche Marginalisierung des Phänomens gerechtfertigt werden kann …, es gehört dann ganz selbstverständlich in das Ghetto der medizinischen und pflegerischen Versorgung“.

Seine zweite Grundthese ist ebenso simpel, aber weniger einleuchtend. Die Demenz sei letztlich nur Folge unseres Lebenswandels. Sie ist quasi eine gerechte Strafe. Gronemeyer ist Theologe und nicht Arzt, er fragt: „Würde die Demenz wieder verschwinden, wenn der Irrsinn aus der Gesellschaft verschwände? Gibt es eine Synergie zwischen dem wachsenden Irrsinn in der Gesellschaft und der Zunahme der Demenz?“

Leider verblasst Gronemeyers Grundkritik in seinem Pessimismusrausch. Es wäre wichtig gewesen, klar herauszuarbeiten, dass selbst die medizinische Forschung nicht mehr sicher ist, ob sie jemals ein Mittel gegen die Krankheit findet. Längst wird über die entscheidende Frage offen diskutiert: Ist die Demenz vielleicht weniger eine Krankheit als vielmehr die unvermeidbare Folge eines alternden Gehirns von Menschen, die immer älter werden?

Der Autor hat in seinen Werken stets die totale Individualisierung der Gesellschaft und ihre Konsumorientiertheit beklagt. Man habe sich befreit von Gott und Gemeinschaft. Man kann Gronemeyer in seiner Gesellschaftskritik folgen, aber seine brutale Negativität degradiert viele nachdenkenswerte Stellen zur Phrase und lässt einem die Lust an der gesellschaftlich so wichtigen Debatte vergehen.

Dabei gibt es sehr lesenswerte Passagen. Etwa, wenn der Autor versucht, ADHS und Demenz zusammenzudenken, als der gesellschaftlichen Norm abweichende Extreme, die diagnostiziert und therapiert werden müssen, zwanghaft sozusagen, anstatt sie einfach zu akzeptieren. Seine Warnung vor einer hysterischen Gesellschaft, die vergisst, wie man Menschen, die aus der Norm fallen, begegnet, ist unbedingt bedenkenswert.

Auch seine Beschreibungen über unseren Hang zur Standardisierung und zur Planung, zur „Industrialisierung des Sterbens“, wie er sagt, sind nachdenkenswert. Aber Gronemeyer kann immer nur Attacke, Antwort kann er nicht. Selbst die Palliativmediziner sind aus seiner Sicht lediglich „Wellenreiter in der gegenwärtigen Landschaft und räumen ab. Nicht der Tod ist heute das Tabu, sondern die um Marktanteile kämpfende Palliativmedizin, die sich in einer kritikfreien Zone ausbreitet.“

Die Errungenschaften der Pflege und der Betreuung, solidarische Netzwerke, altersgerechtes Wohnen, Angebote für ältere Menschen wie Malstunden oder Aquagymnastik hält er für eine „verzweifelte Anstrengung, den verlorenen Zusammenhalt der Gesellschaft wiederherzustellen“. Offenbar ist das für ihn ausdrücklich nicht die „neue Haltung“ und nicht Teil einer „Willkommenskultur“, die sich Gronemeyer so sehr wünscht, um den Dementen zu begegnen.

Stattdessen fordert er zum Rückzug ins Private auf, in eine medizinisch befreite Zone. Er beschreibt ein Beispiel von einer Frau, Tante Hulda, die er 1943 als kleiner Junge traf und die trotz ihres offensichtlichen Wahnsinns (Demenz) einfach auf ihrem Bauernhof herumlaufen durfte. Niemand sei auf die Idee gekommen, die Frau einer „medizinischen Diagnose zuzuführen“. Der Schlüsselsatz, um Gronemeyers Denken zu verstehen, lautet: „Wahrscheinlich hat sie sich irgendwann zum Sterben niedergelegt, damit ihr Herrgott sie zu sich holen konnte.“ Manchen, wie Gunter Sachs, macht ja genau diese Vorstellung so große Angst.

Reimer Gronemeyer: „Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit.“ Pattloch-Verlag, 304 Seiten, 17,99 Euro.

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