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Wiese mit Wisent. Das Ur-Wild war fast ausgestorben. Jetzt gibt es europaweit wieder zahlreiche Herden. In Deutschland allerdings gibt es auch Beschwerden.

© picture alliance/dpa

Auswilderung der Wisente: Wer hat Angst vor dem Riesen-Rind?

In Deutschland gibt es wieder wilde Wisente. Nicht allen gefällt das. Jetzt soll der Bundesgerichtshof entscheiden.

Als im Februar 1921 der letzte frei lebende Wisent in Polen von einem Wilderer geschossen wurde, schien die Geschichte der größten Landsäugetiere Europas ein jähes Ende gefunden zu haben. Heute, 97 Jahre später, zieht wieder eine freie Herde durch das Sauerland. Man könnte solche Auswilderungen auch anderswo versuchen. Auch Flächen in Brandenburg gelten dafür laut einem Gutachten als geeignet. Ob das realistisch ist, hängt auch von einem Fall ab, der am Freitag vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe verhandelt wird.

Wie wild ist ausgewildertes Wild?

Geklagt haben zwei Waldbauern aus dem Sauerland. Grund sind Schäden in ihren Forsten. Sie wollen erreichen, dass der Verein Wisent-Welt-Wittgenstein e. V., der die Wiederansiedlung der Rinder betreut, dafür sorgt, dass keine Wisente mehr in ihre Besitzungen gelangen. Das Gericht wird dabei entscheiden müssen, ob die nachgezüchteten Tiere als „wild“ gelten und besonderen Schutz genießen. Dann müssten sich die Waldbesitzer mit den Schäden abfinden. Oder ob die Wisente schlicht eine Rinderherde sind, für die der Verein als Eigentümer zuständig ist und die eben eingezäunt oder „abgeschafft“ werden muss.

Im Mittelalter war es keine Frage, ob Wisente wild und Bestandteil der europäischen Wälder sind. Weit verbreitet waren die Tiere mit dem markanten Buckel, mächtigem Schädel, schwerem Vorderteil und zotteligem Fell. Das Fleisch des bevorzugten Jagdwilds der Herrschenden war fest, mager und würzig, die Zunge galt als Delikatesse.

Wo der Zar dem Rind nachstellte

Anfang des 20. Jahrhunderts schienen die Tage der bis zu über 900 Kilogramm schweren und 1,90 Meter hohen Wisente (Bos bonasus) gezählt. Letzte Zuflucht hatten sie im polnischen Tieflandurwald von Bialowieza gefunden. Hier, im Jagdgebiet des russischen Zaren, lebten 1914 noch 700 Tiere, unbehelligt von Wilderern. Krieg und Nachkriegswirren änderten das. 1921 war die Herde auf null Tiere geschrumpft.

Der König der Wälder schien verloren. Schon 1923 gründeten Direktoren deutscher Zoos in Berlin aber die „Gesellschaft zur Rettung des Wisents“. Die Zählung der übrigen reinrassigen Wisente machte allerdings wenig Mut: 29 Bullen und 25 Kühe. Dazu kam der gefährlich enge Verwandtschaftsgrad: Sämtliche dieser Ur-Rinder stammten von zwölf Elterntieren ab.

Um Inzuchteffekte zu minimieren, flossen sämtliche Daten in das erste Zuchtbuch, das je für eine wild lebende Art angelegt wurde. Bis heute registriert dieses "European Bison Pedigree Book" jedes "reinblütige" Tier. So können für Zucht- oder Auswilderungsprojekte geeignete Bullen und Kühe ausgewählt werden.

Wittgensteins Wisente

Die ersten Nachzuchten konnten 1952, fast 30 Jahre später, ausgewildert werden, wieder im Bialowieza-Wald. Heute beherbergt das polnisch-weißrussische Weltnaturerbe auf mehr als 1400 Quadratkilometern mit 1214 Tieren die größte frei lebende Wisentpopulation.

Seit April 2013 gibt es auch in Deutschland eine wilde Herde. Nach intensiven Vorstudien hat im Sauerland der Verein Wisent-Welt-Wittgenstein e. V. im Rothaargebirge nördlich von Bad Berleburg acht Tiere ausgewildert - auf Initiative des inzwischen verstorbenen Fürsten Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg in dessen Wäldern. Wissenschaftler wählten dafür einen Bullen und Kühe, bei denen die Gefahr von Inzuchtdefekten gering ist. Paarungen zwischen nah Verwandten gelten als Risiko. Häufige Folge sind Inzuchtdepressionen mit Erbkrankheiten. Seit Beginn der 1980er Jahre sind etwa Bullen in Bialowieza verstärkt von Entzündungen der Vorhaut betroffen, durch die sie unfruchtbar werden.

„2003 begannen unsere Planungen. Mit einer Größe von 5600 Hektar ist ihr nicht umzäuntes Gebiet vergleichbar mit osteuropäischen Wisent-Revieren“, sagt Kaja Heising, wissenschaftliche Koordinatorin des Projektes. Die Tiere, bei denen Bullen mit über 900 Kilogramm deutlich schwerer werden als jedes normale Zuchtrind, gedeihen gut. In nur fünf Jahren hat die heute mehr als 20 Köpfe zählende Herde ihre definierte Zielgröße von 25 annähernd erreicht. Sobald die sauerländischen Wisente diese Zahl überschreiten, gehen Tiere in Wildparks oder andere Auswilderungsprojekte.

Im Sauerland waren Anwohner (wie teilweise auch bei anderen Auswilderungsprojekten) anfangs mehr als verunsichert. Großrinder, afrikanische Büffel etwa, gelten als potenziell gefährlich, vor allem, wenn Kühe Kälber beschützen wollen. Und Waldbesitzer der Gegend fürchteten um ihre Bäume. Denn die Wiederkäuer mit dem Kinnbart sind für ihren Appetit bekannt. Ein Tier verzehrt täglich bis zu 60 Kilogramm Gras, Laub, Kräuter, Zweige und kleine Bäume. Rindenfraß verursacht Schäl-Schäden und führt zu Wertverlusten.

Scheu und manchmal aggressiv

„Ängste angrenzender Waldbesitzer nehmen wir sehr ernst“, sagt Heising, „und wenn der Wisent als Schadensverursacher nicht ausgeschlossen ist, entschädigen wir aus einem dafür angelegten Fonds, an dem sich auch das Land beteiligt.“ Um solche Zahlungen gering zu halten, hat man etwa über die Winterfütterung versucht, die Herde im angestammten Revier zu binden.

Ohne Risiko sind Wildtiere in Kulturlandschaften aber nie. Große Landsäuger wie Elch, Rothirsch oder eben Wisent sind eine potenzielle Gefahr für den Straßenverkehr. Heising sagt, bislang habe es erst eine Kollision mit einem Auto gegeben: „Dabei wurde lediglich ein Außenspiegel beschädigt.“

In den Herzen der meisten Bürger sind die Wisente inzwischen jedenfalls offenbar angekommen. Eine Umfrage unter der lokalen Bevölkerung hat ergeben, dass mehr als 80 Prozent einen Verbleib der Tiere im Rothaargebirge befürworten. Die Wisente haben sich – nach allem, was man weiß – auch positiv auf den Tourismus ausgewirkt. Hilfreich waren auch Tests von Biologen der Universität Siegen, die vor der Auswilderung untersuchten, wie die Wisente auf Menschen reagieren.

Gefährlich? Oder nicht so wild?

Dafür hatten sie die bärtigen Kolosse mit Radfahrern, Skiläufern, Wanderern, Fotografen und sogar Hunden konfrontiert. Spätestens bei 40 Metern Entfernung seien die Wisente geflüchtet. Mit bis zu 60 Stundenkilometern. Allerdings ist auch dokumentiert, dass 2016 eine von ihrem Hund begleitete Touristin von einer Mutterkuh umgestoßen wurde und Abschürfungen erlitt. Zudem kursieren Fotos, die angeblich wilde Wisente zeigen, wie sie sich von Waldbauern aus Eimern füttern lassen.

Dass Konflikte wohl nicht auszuschließen sind, zeigt auch der Fall des Wisent-Bullen, der am 13. September 2017 die Oder bei Lebus überquerte. Es war die erste natürliche Einwanderung seit ihrer Ausrottung vor etwa 250 Jahren. Zwei Stunden später war der Bulle „Gozubr“ – unter diesem Namen war er in Polen als einzeln ziehender Bulle bekannt – tot. Erschossen worden war er aufgrund von „Gefahr für Leib und Leben“ nach Anordnung des Amtsdirektors, obwohl Wisente durch polnisches und deutsches Recht geschützt sind. Auch ansonsten war der Abschuss formal höchstwahrscheinlich illegal. Denn die Entscheidung hätte laut einem Rechtsgutachten die Untere Naturschutzbehörde fällen müssen und nicht ein Amtsdirektor. Gozubr war Nachkomme von 1980 östlich von Szczecin ausgewilderten Wisenten. Drei Herden mit mehr als 80 Wildrindern ziehen inzwischen unbehelligt durch Westpolen.

Rinder für den Spreewald?

Ist die Zukunft der europäischen Ur-Rinder also gesichert? Nach dem „European Bison Pedigree Book“ lebten Ende 2017 von insgesamt 7180 Wisenten 5036 Tiere in acht Ländern und 42 Herden in Freiheit. Die Rückwanderung der europäischen Wildrinder nach Westen geht weiter. Schweizer Naturschützer diskutieren eine Rückkehr der Wisente ins Jura. Dänemark, Niederlande und Frankreich bereiten Wiederansiedlungen vor.

Auch in Deutschland könnte es bald noch mehr Platz für Wisente geben. 2017 wurde eine Studie vorgestellt, die vier weitere mögliche Lebensräume vorschlägt: Neben Wäldern nahe der Müritz, dem Harz und dem Pfälzer Wald gehört dazu auch die Region Cottbus-Spreewald-Guben. Moritz Klose von der Naturschutzorganisation WWF sagt, man werde jetzt „jedes dieser Gebiete genauer ansehen“, um Grundlagen zu schaffen, damit „der nächste einwandernde Wisent überleben kann“. Bei aktiver Ansiedlung sei man aber „zurückhaltend“. Wohl nicht zuletzt wegen des ausstehenden Gerichtsurteils.

Unwiederbringlich: der Auerochse

Wie wichtig neue Refugien für die Ur-Rinder sind, zeigt die Entwicklung in Polen: 2017 wurden im Urwald von Bialowieza, seit jeher das Wohnzimmer der Wisente, große Holzmengen gefällt. Erst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes konnte dies stoppen.

Ein Problem für die Zukunft des Wisents ist jedoch vor allem der kleine Genpool. Veterinären zufolge werden die Tiere kleiner und anfälliger gegen Infektionskrankheiten wie Maul- und Klauenseuche oder Parasiten wie Leberegel. An ähnlicher Armut an Genvarianten krankt die Nachzucht des nordamerikanischen Bisons (Bos bison), von dem es Anfang des 20. Jahrhundert noch 23 Tiere gab. Von ihnen stammen alle heutigen 30.000 wilde Exemplare ab. Für das zweite europäische Wildrind, den Auerochsen, kam jede Hilfe zu spät: Das auch Ur genannt Rind (Bos primigenius), von dem zahlreiche Hausrind-Rassen abstammen, ist seit 1627 tatsächlich komplett ausgestorben.

Roland Schulz

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