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Geschichte in den Blättern: Berliner Maulbeerbaum zeugt von preußischen Ambitionen

Vor 300 Jahren versuchte man in Preußen, Seide zu produzieren. Manche Zeugen jener Zeit leben noch heute.

In einem Hinterhof in der Friedrichstraße 129 steht ein Maulbeerbaum in einem kleinen Park, zu erreichen nur durch eine Tordurchfahrt von der Claire-Waldoff-Straße. Der knorrige Stamm wächst schief aus der Erde, die verdrehte Krone windet sich halb über einen Parkplatz.

Ihre Geschichte lässt sich die Pflanze nicht anmerken und ist doch ein Zeitzeuge einer Epoche, die längst vergangen ist, einer Zeit voller Ambitionen und Enttäuschungen in der Geschichte Preußens.

Bis Ende des 18. Jahrhunderts versuchte man hier Seide zu produzieren – in Berlin, im kühlen nordöstlichen Mitteleuropa. Ein Unterfangen, das durch Friedrich Wilhelm I., den „Soldatenkönig“ begonnen und durch seinen Sohn Friedrich II., den „Alten Fritz“, noch forciert wurde. In einer Zeit, in der Kleidung hauptsächlich aus Leinen oder kratziger Wolle bestand, war weicher Seidenstoff beliebt und begehrt. Und teuer.

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Hohl und verdreht, aber standhaft

Um die Kosten für Importzölle für Seide zu drücken, entschieden die preußischen Könige kurzerhand, den Stoff in ihrem Land zu produzieren. Schließlich brauchte es dafür eigentlich nur zwei Voraussetzungen: Seidenraupen, um die kostbaren Fäden zu spinnen. Und Maulbeerbäume, deren Laub die Tiere ernährte – wie das knorrige Exemplar auf dem Hinterhof der Friedrichstraße.

Wann genau dieser Baum gepflanzt wurde, weiß heute keiner mehr so genau. Auf der Internetseite des Berliner Senats heißt es, er wäre über 300 Jahre alt. Nicht älter als 130 Jahre schätzen ihn dagegen Baumpfleger des Berliner Grünflächenamts.

Sein genaues Alter bleibt ein Rätsel: Der Stamm ist hohl und verdreht, das macht Altersbestimmungen anhand der Jahresringe schwierig. Außerdem können gefällte Maulbeerbäume aus dem Stumpf neu austreiben. Historische Aufzeichnungen allerdings lassen vermuten, dass der Baum in der Friedrichstraße tatsächlich mehrere Hundert Jahre alt ist.

Damit stammt er wahrscheinlich aus einer Zeit, in der die Seidenproduktion erstmalig nach Preußen gelangte.

Plantagen von Maulbeerbäumen

1687 wurde das Gelände in der Friedrichstraße der französischen Gemeinde überlassen, die sich kurz zuvor im damaligen Berlin gegründet hatte. Es waren Religionsflüchtlinge, Réfugiés und später Hugenotten genannt, die hier eine Klinik für Arme und Bedürftige errichteten.

Auf alten Landkarten sieht man, wie sich das Gebiet veränderte. 1709 wurden hier Gärten und ein Friedhof angelegt – am Standort des alten Maulbeerbaums. Einige der Hugenotten wussten zudem, Seide zu spinnen. Frankreich war Zentrum der europäischen Seidenproduktion.

Kleider, Taschen und Tapeten fertigte man damals aus Seide. 16.000 Taler pro Jahr zahlte allein die Königliche Gold- und Silber-Manufaktur Anfang des 18. Jahrhunderts für Seide aus dem Ausland. Ab 1731 wurde Dienstmädchen das Tragen von seidenen Röcken verboten.

Doch dann besann sich Friedrich II. auf die Fähigkeiten der Hugenotten. Ganze Plantagen von Maulbeerbäumen ließ der König anlegen. Er erließ Subventionen, um das Pflanzen von Maulbeerbäumen zu beschleunigen und verteilte kostenlos Seidenraupeneier. Amtsleute, Magistrate und Geistliche sollten sich in ihrer Freizeit damit beschäftigen.

Drei Edikte aus den 1740er Jahren stellten die Ausfuhr und die Beschädigung von Maulbeerbäumen unter Strafe. Die Bäume wurden überall dort gepflanzt, wo es ging: in Schul- und Privatgärten, auf Friedhöfe und als Hecken. Ihr Laub musste geputzt und verlesen werden, bevor man es den Seidenraupen anbot. Andernfalls hätten Krankheitserreger auf die Zucht übertragen werden können.

Fleiß und Eifer

Mehrmals täglich mussten die Raupen gefüttert werden. Eine Normalzucht von 20.000 Raupen, die am Ende fünf Pfund Seide hervorbringen sollten, benötigte nach vier Wochen, kurz bevor es ans Verpuppen ging, täglich 90 Kilogramm Maulbeerbaumlaub. An die 600 Kilo Blätter hatten die Raupen verspeist, bevor sie endlich anfingen, die kostbaren Seidenfäden zu spinnen und sich damit zu verhüllen.

Zudem mussten die empfindlichen Raupen sorgsam gepflegt und bei konstanten Temperaturen gehalten werden. Brachen im Frühjahr die Temperaturen unerwartet ein, produzierten die Bäume nicht genug Laub. Die Tiere verhungerten und alle Mühe war umsonst. Die Seidenraupenzucht stellte sich als mühseliger Vollzeitjob heraus – keinesweg als einfacher Nebenerwerb, wie es sich Friedrich der Große vorstellte. Ungeduldig verfolgte er die nach seinem Geschmack viel zu langsame Produktion.

„Ich wünsche, dass ein jeder Bauer sich damit beschäftige“, verlangte er 1775, jeder von ihnen sollte so viele Maulbeerbäume anlegen, wie für die Produktion von ein oder zwei Pfund Seide benötigt wurden.

Doch so einfach und freiwillig der Anbau von Maulbeerbäumen befolgt wurde, so nachlässig kümmerte man sich um die aufwendige Pflege der Tiere. „Faule Esels“ seien die Geistlichen der Kurmark, wetterte Friedrich II. 1781 schließlich enttäuscht.

Von den erwarteten 40 000 Pfund Seide in diesem Jahr war gerade mal ein Viertel geschafft worden. Es fehle an Fleiß und Eifer, klagte der König, schon fünf Jahre zuvor hätte der Ertrag doppelt so hoch sein können. Selbst 1784, als die Bemühungen ihren Höhepunkt erreichten, konnte die heimische Produktion gerade einmal fünf Prozent des Importsaldos für Seide auffangen.

Als Friedrich II. nur zwei Jahre später starb, schwanden schnell alle Ambitionen, die mühselige Seidenproduktion weiter zu verfolgen. Die Dokumentation von erwirtschafteten Seidenmengen riss ab, die einst so geschätzten Bestände von Maulbeerbäumen verloren an Bedeutung. Zahllose Exemplare wurden innerhalb kurzer Zeit zu Brennholz, oft unter dem Vorwand, dass sie in den strengen Wintern ohnehin erfroren seien.

Es ist ein glücklicher Zufall, dass der Maulbeerbaum auf dem Hinterhof der Friedrichstraße 129 noch heute steht.

Aus: Botschafter des Lebens – Was Bäume in Städten erzählen von Caroline Ring. Berlin Verlag 2020. 256 Seiten, 22 €

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