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Studentendemonstration in Gießen

© dpa

Bildung: Europas Studierende vor Mauern

Die Studie "Eurostudent" zeigt "soziale Verzerrungen" auf: Viele Studierende können sich das Studium im Ausland nicht leisten. Der "europäische Hochschulraum" ist ein Privileg Wohlhabender.

Europas Studentinnen und Studenten sind weit davon entfernt, eine große Gemeinschaft zu bilden. Im Gegenteil, finanziell liegen zwischen ihnen Welten. Das geht aus der Studie „Eurostudent“ hervor, die am Freitag in Berlin präsentiert wird und dem Tagesspiegel bereits vorliegt. Weil viele Studierende sich ein Studiensemester im Ausland nicht leisten können, bleiben sie zu Hause. Der „europäische Hochschulraum“, den Europas Bildungsminister 1999 in Bologna zu schaffen begannen, ist demnach ein Privileg der wohlhabenderen Studierenden, die meist aus bildungsnäheren Elternhäusern stammen. Die Autoren der internationalen Studie empfehlen deshalb staatliche „Mobilitätsprogramme“.

Die Ergebnisse der Untersuchung sind nach Ansicht der deutschen Koordinatoren vom Hochschulinformationssystem (HIS) von „höchster Relevanz“. Denn im Herbst müssen die am Bologna-Prozess teilnehmenden Länder ihre nationale Strategie für die soziale Dimension des Hochschulstudiums darlegen. Für den europäischen Vergleich liegen nun aktuelle Daten vor, die das Problembewusstsein schärfen.

Wie schwierig es für die Europäer wird, ihren Studierenden gleiche Chancen während des Studiums zu geben, zeigt ein Blick in die studentischen Portemonnaies. Ein Schweizer, der nicht bei seinen Eltern lebt, hat monatlich im Schnitt ein Einkommen von 1660 Euro – fast zehnmal so viel, wie ein Rumäne, der von 180 Euro im Monat leben muss (siehe Grafik). Zu den Spitzenreitern beim Einkommen zählen auch Studierende in England und Wales sowie in Österreich, zu den finanziell am schlechtesten Ausgestatteten Bulgaren und Türken. Deutsche Studierende bewegen sich im Mittelfeld: Ihnen stehen im Schnitt 820 Euro zur Verfügung.

Wer zu Hause wohnt, braucht weitaus weniger Geld: in der Schweiz im Schnitt 960 Euro, in Deutschland 410 Euro. Allerdings leben in Deutschland nur 23 Prozent bei ihren Eltern, 65 Prozent wohnen alleine oder in der WG, der Rest im Wohnheim. In Finnland wohnen sogar nur vier Prozent zu Hause, in Italien dagegen 73 Prozent.

Große Unterschiede gibt es auch bei den Einkommensquellen. Deutsche Studierende erhalten 58 Prozent ihres Lebensunterhalts von den Eltern, 28 Prozent arbeiten und 14 Prozent bekommen Geld vom Staat, also Bafög. In Portugal, Irland und der Türkei werden die Familien noch mehr in die finanzielle Verantwortung genommen: Zwei Drittel der Studierenden werden von den Eltern unterstützt. In Schweden ist das Verhältnis umgekehrt. Dort kommen 63 Prozent des Einkommens der Studierenden vom Staat, 24 Prozent aus Jobs und nur 13 Prozent von den Eltern.

In der Hälfte der untersuchten Länder jobbt mehr als die Hälfte der Studierenden. In den Niederlanden und in Estland sind es sogar mehr als zwei Drittel. Mit ausschlaggebend ist die soziale Herkunft. Studierende aus hochschulfernen Elternhäusern haben weitaus häufiger Nebenjobs. Für alle Länder und alle Schichten aber gilt: Je älter die Studierenden sind, desto mehr gehen sie arbeiten. Durch die Doppelbelastung kommen Studierende in einigen Ländern auf hohe Arbeitszeiten für Studium und Job. In Lettland sind es 63 Stunden, in Slowenien 52, in Deutschland dagegen nur 41 Stunden. Quer durch alle Länder haben nur knapp zehn Prozent der Studentenjobs einen engen inhaltlichen Bezug zum Studienfach.

Die soziale Herkunft wirkt sich auf die Mobilität aus. Der Anteil Studierender aus Familien ohne akademischen Hintergrund, die eine Hochschule im Ausland besucht haben, ist in Italien, Portugal und der Türkei drei Mal geringer als der ihrer Kommilitonen aus hoch gebildeten Elternhäusern.

Gleichzeitig sind es vor allem Studierende aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten, die kaum Auslandserfahrungen sammeln. Haben etwa elf Prozent der norwegischen und acht Prozent der deutschen Studierenden ein oder mehr Semester an einer ausländischen Universität verbracht, sind es in der Slowakei und Rumänien nur zwei Prozent. Als Hindernisse für die Mobilität von Studierenden nennt die Studie „das Fehlen finanzieller und organisatorischer Unterstützung“. Die Staaten sollten „Mobilitätsprogramme“ auflegen, durch die solche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Für Studenten aus ärmeren Ländern könnte ein zwischenstaatlicher Unterstützungsfonds eingerichtet werden.

So groß die sozialen Unterschiede zwischen West- und Osteuropa, aber auch zwischen Westen und Süden sind – eine Konstante gibt es: Studierende mit niedriger sozialer Herkunft sind in allen 23 Hochschulsystemen unterrepräsentiert. Als besonders selektiv sieht die Studie das Bildungswesen unter anderem in Tschechien, in Deutschland und Estland. Mit verantwortlich dafür sei ein stark gegliedertes Schulwesen, in dem die Schüler früh nach ihrer Leistungsfähigkeit sortiert werden. Relativ hoch ist die Beteiligung von „Studierenden der ersten Generation“ dagegen in den Niederlanden, Finnland, Spanien, der Schweiz und Irland.

Jugendliche aus niedrigen sozialen Schichten sollten bereits in der Schule zu einem Hochschulstudium ermutigt werden, heißt es in der Studie. Um die soziale Verzerrung der Schulleistungen zu überwinden, sei es notwendig, neben dem Abitur auch andere Voraussetzungen für ein Studium verstärkt zu fördern. Zu den Vorreiterländern, in denen schon heute zehn bis 15 Prozent einen „nicht-traditionellen Weg“ an die Hochschule genommen haben, gehören England und Wales, die Niederlande und Slowenien.

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